Was die Visafreiheit für die Türken bedeutet

  17 März 2016    Gelesen: 1170
Was die Visafreiheit für die Türken bedeutet
Einfach mal Urlaub in Europa machen: Das Abkommen mit der EU könnte den Türken die lange ersehnte Visumfreiheit bringen. Damit würde Erdogans AKP auch in oppositionellen Milieus punkten.
Für türkische Staatsbürger sind die EU-Konsulate Orte des Grauens. Früher bildeten sich vor dem deutschen Konsulat in Istanbul mitten in der Nacht Warteschlangen. Inzwischen bearbeitet eine Fremdfirma die Anträge, über das Internet werden Termine vergeben, die Ungleichheit ist nicht mehr sichtbar.

Und doch gibt es sie: Während ein Deutscher spontan zum Kurzurlaub nach Antalya fliegen oder ein deutscher Manager kurzfristig den nächsten Flug nach Istanbul buchen kann, ist für Türken ein Gegenbesuch mit erheblichem Aufwand verbunden: Einkommensnachweise, Steuerbescheide, Kontoauszüge, Versicherungsbeiträge, Grundbuchauszüge, Nachweise über Hotelbuchungen – die Liste von Unterlagen, die die Schengen-Staaten fordern, ist lang. Sehr lang.

Im Zuge des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und der Türkei soll das wegfallen. Ausgerechnet Deutschland, das stets an der Visumspflicht festgehalten hat, versucht nun die übrigen Schengen-Staaten von ihrer Aufhebung zu überzeugen. Für die türkische Regierung ist dieser Teil der Abmachung der wohl wichtigste, wichtiger jedenfalls als die eine oder andere Milliarde Euro. Damit könnte die Regierungspartei AKP sogar in Milieus punkten, in denen sie sonst nicht gut gelitten ist.

Bei Menschen wie Kenan Yatikci etwa. Der 47-Jährige ist selbstständiger Steuerberater – sozialdemokratisch, säkular, moderater Anhänger des Staatsgründers Atatürk. Mit Schaudern erinnert er sich daran, wie er auf dem niederländischen Konsulat ein Visum beantragt hat. "Das war entwürdigend", sagt er. "Ich musste mich quasi nackt ausziehen." Am liebsten hätte er das Formular dem Sachbearbeiter ins Gesicht geschleudert. "Aber das konnte ich nicht. Meine Schwester lebt in den Niederlanden; sie hatte eine schwere Operation, und ich wollte ihr beistehen."

Im Sommer erlebte er Ähnliches bei einem Visumsantrag für seine Tochter. Die 16-jährige besucht ein deutschsprachiges Gymnasium, in den Ferien wollte sie eine Sprachschule in Heidelberg besuchen. "Da ist ein junger Mensch, der sich für euer Land interessiert. Und Deutschland hat nichts Besseres zu tun, als diesem Kind Fingerabdrücke abzunehmen und sie wie eine Kriminelle zu behandeln", sagt Yatikci.

Es geht also um die Prozedur, die viele als verletzend empfinden, weniger um die Frage, ob die Visumsanträge abgelehnt werden. Im vergangenen Jahr wurden an den deutschen Konsulaten Istanbul, Ankara und Izmir rund 210.000 Schengen-Visa erteilt – an türkische Staatsbürger wie an visapflichtige Bürger anderer Staaten, die nicht gesondert erfasst werden. Demgegenüber wurden etwa zehn bis zwanzig Prozent der Anträge abgelehnt. Seit dem Tiefpunkt im 2009 mit erteilten Visa 110.000 ist diese Zahl stetig gestiegen. Die Prozedur aber ist unverändert.

Krieg gegen die Kurden

Auch Ceren Kumbasar ist froh, wenn ihr derlei künftig erspart bleibt. Die 38-Jährige hat sich in einer Männerbranche durchgesetzt: in der Bauwirtschaft. Ihre Firma beschäftigt rund 50 Mitarbeiter, nebenher schreibt sie Wirtschaftskolumnen für die "Cumhuriyet". Eine, welche die sozialdemokratische CHP wählt, obwohl sie deren wirtschaftspolitische Ansichten zu etatistisch findet.

"Auch eine Unternehmerin wie ich, die etliche Mal auf Geschäftsreisen in Europa war, muss sich jedes Mal dieser Prozedur unterwerfen", sagt sie. "Wenn das der türkischen Regierung unter anderen Umständen gelungen wäre, hätte ich ihr gratuliert. So aber ist das kein Erfolg, sondern allein der Angst Europas vor Flüchtlingen geschuldet. Eigentlich beschämend."

Wenn die Visumspflicht vollständig wegfällt, könnten allerdings, jedenfalls theoretisch, auch Kurden aus den umkämpften Gebieten als Touristen einreisen, um danach Asyl zu beantragen. "Während die EU uneinig und ratlos versucht, die Flüchtlingskrise auf dem Balkan in den Griff zu bekommen, entstehen im Südosten der Türkei aktuell die nächsten Fluchtursachen. Und sicher wird niemand vorher irgendetwas geahnt haben", sagte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir der "Welt am Sonntag".

Bereits Ende vergangenen Jahres sagte Gültan Kisanak, Oberbürgermeisterin der kurdischen Metropole Diyarbakir, dieser Zeitung: "Die Menschen hoffen, dass sich die Lage wieder beruhigt. Aber wenn die Kämpfe fortdauern, dann werden sie sich fragen, ob sie nicht anderswo eine bessere Perspektive haben." Zuletzt warnte Selahattin Demirtas, Chef der prokurdischen HDP, in der ARD: "Wenn dieser Krieg länger andauern sollte, dann werden die Menschen weiter flüchten und, ja, auch nach Europa, nach Deutschland."

Angesichts von 200.000 Menschen, die in den vergangenen Monaten im Südosten des Landes aus ihren Häusern geflohen sind, keine überzogene Warnung. Doch bislang ist nur ein einziger Fall von einer Familie aus der Altstadt von Diyarbakir bekannt, die in einem Schlauchboot von der Küstenwache aufgegriffen wurde.

Türkei kein sicheres Herkunftsland

Mit dem Wegfall der Visumspflicht könnte sich das ändern – und damit die Entwicklung der vergangenen Jahre umkehren. 1995 wurden in Deutschland noch 33.750 Asylanträge von türkischen Staatsbürgern gestellt. 2015 waren es nur noch 1500 Erstanträge. Allerdings gilt die Türkei nicht als "sicheres Herkunftsland". Und sie ist es auch nicht. 14,7 Prozent aller türkischen Asylantragsteller erhielten 2015 Flüchtlings- oder Abschiebeschutz, fast alle waren Kurden.

Anders als noch vor ein paar Monaten ist man sich inzwischen in der Bundesregierung des Problems bewusst. "Wir beobachten die Entwicklungen im Südosten", heißt es aus Regierungskreisen. "Wenn sich eine Massenflucht abzeichnet, wird man die Frage der Visumfreiheit neu entscheiden müssen."

Momentan ist das nur Theorie. Und womöglich hat es einen politischen Grund, weshalb kurdische Politiker verstärkt darauf hinweisen: Das Vorgehen gegen die kurdische Zivilbevölkerung, die Drangsalierung der Pressefreiheit – all das spielt sich in aller Öffentlichkeit ab und muss trotzdem hinter dem Flüchtlingsthema zurückbleiben. Die Überlegung könnte daher lauten: Wenn die Europäer von alldem nichts wissen wollen, hören sie vielleicht zu, wenn man "Flüchtlinge" sagt. Wenigstens dann.

Quelle : welt.de

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