Seit Freitag stellen sich bei vielen Eltern endlich Frühlingsgefühle ein: Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hat die Zulassung des Biontech-Impfstoffs für Kinder ab 12 Jahren empfohlen. Angeblich soll die Schutzwirkung in diesem Alter sogar 100 Prozent betragen. Der kleine Piks erscheint als Ausweg aus den dunklen Monaten der Masken, Schnelltests und Vereinsamung vor dem heimischen Computer. Als Ticket für einen unbeschwerten Urlaub mit der ganzen Familie. Als Erlösung von den nervenzehrenden Ausfällen der schulischen Betreuung. Um die Pandemie endlich in den Griff zu bekommen, so fordern es Politiker und auch einige Fachleute, müssen die Kinder geimpft werden, und zwar so schnell wie möglich.
Bei genauerem Hinsehen ist die Lage jedoch nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint. Bei der Entscheidung, ob Kinder gegen Covid geimpft werden sollen, kommt es auf medizinische, epidemiologische und ethische Fragen an, auf die es derzeit noch keine befriedigenden Antworten gibt.
Bereits die medizinische Datenlage ist äußert dünn, trotz des positiven Votums der EMA. Die Europäische Arzneimittelagentur folgt damit der US-Behörde FDA, die den Impfstoff von Pfizer/Biontech kürzlich ab 12 Jahren zugelassen hat. Grundlage der Entscheidung war eine klinische Studie aus den USA mit 2260 Teilnehmern zwi-schen 12 und 15 Jahren, von denen etwa die Hälfte (1131) den Impfstoff erhalten hat, die andere bekam zur Kontrolle ein unwirksames Placebo. Während in der Kontrollgruppe 16 symptomatische Covid-Erkrankungen auftraten, gab es bei den Geimpften keinen (symptomatischen) Fall.
Die oft gehörte Interpretation, der Impfstoff sei demnach in dieser Altersgruppe zu "100 Prozent" wirksam, ist aus mehreren Gründen falsch. Erstens erlaubt die geringe Zahl der Studienteilnehmer aus statistischen Gründen nur eine ungefähre Aussage über die Schutzwirkung, der wahre Wert kann irgendwo zwischen 75 und 100 Pro-zent liegen. Zweitens wertete die Studie nur symptomatische Erkrankungen als Impfversager. Inwieweit das Vakzin vor asymptomatischen Infektionen schützt und eine Weitergabe des Virus verhindert, ist deshalb unbekannt.
Keine Aussagen über seltene Nebenwirkungen möglich
Auch bezüglich der möglichen Nebenwirkungen reichen die verfügbaren Daten für eine zuverlässige Beurteilung nicht aus. Bei den 1131 Studienteilnehmern zwischen 12 und 15 Jahren, die den Biontech-Impfstoff erhalten haben, zeigten sich zwar nicht mehr Nebenwirkungen als in höheren Altersgruppen. Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht, weil das kindliche Immunsystem in der Regel stärker auf Impfstoffe reagiert. Die Befürchtung, dass dies bereits in der Altersgruppe ab 12 Jahren zu häufigeren unerwünschten Reaktionen wie Rötung, Schwellung, Knochenschmerzen, Krankheitsgefühl und Fieber führt, ist mit dieser Studie vom Tisch. Insofern rea-gieren 12- bis 15-Jährige bereits ähnlich wie Erwachsene, auch die erforderliche Impfdosis ist gleich.
Allerdings lassen sich anhand von nur 1131 Geimpften und einer Nachbeobachtungszeit von zwei Monaten keine Aussagen über seltene oder spät auftretende Nebenwirkungen machen. Zum Vergleich: Vor den Zulassungen der mRNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna für Erwachsene wurden insgesamt fast 36.000 Probanden ab 16 Jahren geimpft, mittlerweile liegen in den USA und Europa Sicherheitsdaten von rund 250 Millionen Erwachsenen vor.
Um die Wahrscheinlichkeit seltener Nebenwirkungen bei Kindern zu beurteilen, müssten deshalb Erkenntnisse einbezogen werden, die an Erwachsenen oder mit vergleichbaren Impfstoffen bei Kindern gewonnen wurden. Beides ist jedoch im Falle der mRNA-Vakzine kaum möglich. Das Immunsystem ist zumindest bis zum Einschu-lungsalter noch unreif und reagiert auch danach bei Kindern anders als bei Erwachsenen. Die auf die Erregerabwehr spezialisierten Zellen (weiße Blutkörperchen und ihre Verwandten) müssen noch lernen, Freunde und Feinde unseres Körpers zu unterscheiden. Wenn hier Fehler passieren, kommt es mitunter zu schwerwiegenden Angriffen auf den eigenen Organismus.
Narkolepsie nach Schweinegrippe-Impfung
Eine solche Autoimmunreaktion wird beispielsweise für eine seltene, aber schwere Nebenwirkung des Impfstoffes Pandemrix verantwortlich gemacht, mit dem 2009 in Europa rund 30 Millionen Menschen gegen die "Schweinegrippe" geimpft wurden (seinerzeit hatte ich mich gegen Pandemrix ausgesprochen und dafür deutliche Kritik des Bundesgesundheitsministeriums geerntet). Erst ein Jahr später, im August 2010, fiel skandinavischen Gesundheitsbehörden auf, dass geimpfte Kinder und Jugendliche häufiger an Narkolepsie erkrankten. Dieses schwere Nervenleiden äußert sich durch ständige Müdigkeit, Leistungsabfall und anfallsartigen Verlust der Muskelkraft bei Erregung. Weitere zwei Jahre später konnten finnische Forscher die Narkolepsien eindeutig auf die Schweinegrippe-Impfungen des Jahres 2009 zurückführen.
Seit 2015 gilt schließlich als gesichert, dass von 100.000 mit Pandemrix geimpften Kindern und Jugendlichen etwa zwei bis sechs eine Narkolepsie als Nebenwirkung entwickelten. Weil die Krankheit erst durch weitere Faktoren wie einen späteren Virusinfekt ausgelöst wird, können von der Impfung bis zum Auftreten der Narkolepsie mehrere Jahre vergehen. Erst Jahre nach der Pandemie von 2009 empfahl die Europäische Arzneimittelbehörde, Personen unter 20 Jahren nicht mehr mit Pandemrix zu impfen. Mittlerweile ist die Zulassung erloschen.
Das Beispiel zeigt, dass Kinder vollkommen andere Nebenwirkungen als Erwachsene entwickeln können. Da diese zudem mitunter selten und erst nach Jahren auftreten, ist eine zuverlässige Beurteilung der Sicherheit der aktuellen Covid-Impfstoffe anhand der bisher vorliegenden Daten nicht möglich.
mRNA-Vakzine programmieren Immunanwort um
Auch ein Rückgriff auf Erfahrungen mit vergleichbaren Impfstoffen scheidet für die Risikobewertung aus, weil die mRNA-Vakzine auf einem vollkommen neuen Wirkmechanismus beruhen (dies gilt auch für Vektorimpfstoffe wie den von Astrazeneca, bei denen eine Anwendung für Kinder allerdings ohnehin nicht in der Diskussion ist). Klassische Impfstoffe, deren Grundlagen auf die chinesische Ming-Dynastie zurückgehen und seit dem 18. Jahrhundert wissenschaftlich untersucht werden, enthalten abgeschwächte (lebende) oder abgetötete Erreger. Seit den 1970er Jahren gibt es auch "Untereinheiten-Impfstoffe" auf Basis gereinigter oder künstlich hergestellter Einzelbestandteile von Bakterien oder Viren. Im Gegensatz dazu werden mRNA-Vakzine erst seit fünfeinhalb Monaten in größerem Stil verimpft, über mögliche Langzeitfolgen ist nichts bekannt.
Bis zu einem gewissen Grad ist es möglich, die möglichen Risiken durch theoretische Überlegungen zu beurteilen. Im Gegensatz zu den Bestandteilen der altbewährten Untereinheiten- und Totimpfstoffe ist mRNA biologisch aktiv: Nach der Injektion in den Oberarmmuskel wird sie von körpereigenen Zellen aufgenommen. Diese stellen nach dem in der mRNA verschlüsselten Bauplan Proteine her, die mit den Stacheln (Spikes) an der Oberfläche des Sars-CoV-2 identisch sind.
Aufgrund dieser biologischen Aktivität, die einer echten Virusinfektion ähnelt, reagiert das Immunsystem stärker als bei Untereinheiten- oder Totimpfstoffen. Woran das im Einzelnen liegt, ist bislang ungeklärt. Neueste Untersuchungen deuten darauf hin, dass mRNA-Impfstoffe dabei die Immunantwort in einer bislang noch unbekannten Weise umprogrammieren. Unklar ist auch, wie lange und in welchen Zellen unseres Körpers die künstliche mRNA aktiv ist.
Sehr geringes Restrisiko bleibt bestehen
Dass Virologen im Hinblick auf möglicherweise unbekannte Nebenwirkungen trotzdem gelassen bleiben, liegt an einem einfachen Analogieschluss: Die in den Impfstoffen von Biontech, Moderna und (demnächst auch) Curevac enthaltene mRNA produziert nur das Spike-Protein, also einen kleinen Teil des Coronavirus. Dass hier ein exotischer Effekt auftreten könnte, der bei der Infektion mit dem vollständigen Virus Sars-CoV-2 nicht beobachtet wurde, ist kaum denkbar.
Nach allem, was wir von Viren bisher wissen, kann eine einzelne, vermehrungsunfähige mRNA nicht gefährlicher sein als das vollständige Virus. Jedenfalls sollte sie harmloser sein als Lebendimpfstoffe, die abgeschwächte, aber vermehrungsfähige Viren enthalten. Solche Lebendimpfstoffe werden beispielsweise gegen Masern, Mumps und Röteln seit Jahrzehnten eingesetzt, ohne dass es zu spät auftretenden Nebenwirkungen gekommen wäre.
Auch für die von Kritikern geäußerte Befürchtung, mRNA-Vakzine könnten das Erbgut verändern, gibt es bislang keinen Beleg. Zwar hat das neue Coronavirus die Wissenschaft gerade mit einer Fähigkeit überrascht, die bis vor Kurzem nur von dem Aids-Erreger HIV und anderen Retroviren bekannt war: Sars-CoV-2 kann Teile seiner Erbinformation in DNA umschreiben und in das Genom der Wirtszelle einklinken. Diese "reverse Transkription" geschieht jedoch, nach allem was wir bisher wissen, nur ausnahmsweise und im Zusammenhang mit der Entzündungsreaktion, die durch eine richtige Virusinfektion hervorgerufen wird. Dass die reverse Transkription auch durch einen Impfstoff aktiviert werden könnte, ist theoretisch nicht auszuschließen, aber nach derzeitigem Wissensstand einigermaßen unwahrscheinlich.
Es gibt somit zwar keinen bekannten biologischen Mechanismus, der zu Spätschäden durch die mRNA-Impfstoffe führen könnte. Vollkommen ausschließen kann man diese Möglichkeit angesichts der bestehenden Wissenslücken jedoch nicht - die Geschichte der Naturwissenschaften war seit jeher voller Überraschungen, im positiven wie im negativen Sinne. Solange keine Langzeitbeobachtungen vorliegen, besteht bei der Impfung mit den neuartigen mRNA-Impfstoffen ein sehr geringes Restrisiko, dessen Art und Auswirkungen derzeit nicht zuverlässig bestimmt werden können.
Medizinische Rarität kann generelle Impfempfehlung nicht begründen
Ob dieses Restrisiko in Kauf genommen werden soll, hängt von den medizinischen Vorteilen für den Geimpften und vom epidemiologischen Nutzen für die Bevölkerung ab. Bei sehr alten Menschen, deren Sterbenswahrscheinlichkeit im Falle einer Covid-Erkrankung bei zehn Prozent liegt, ist die Entscheidung einfach. Auch das Sterbensrisiko von 0,5 bis 1 Prozent für die Altersgruppe zwischen 50 und 70 spricht eindeutig für die Impfung. Für Erwachsene unter 50 stehen dem Restrisiko, neben der Vermeidung der auch in diesem Alter gelegentlich vorkommenden schweren Verläufe, auch der Schutz der Mitmenschen und der Gewinn privater und beruflicher Freiheiten gegenüber.
Für Kinder fällt die Abwägung zwischen Nutzen und Risiken dagegen weniger leicht. Schwere oder gar tödliche Verläufe der Coronavirus-Infektion sind unter 18 Jahren extrem selten und fast immer mit Vorerkrankungen verbunden. Auch das von Befürwortern der Impfung gelegentlich angeführte Multiple Inflammationssyndrom (MIS-C) ist mit weniger als einem Fall pro 2000 Infektionen eine medizinische Rarität, die eine generelle Impfempfehlung für Kinder nicht begründen kann. Gleiches gilt für Langzeitfolgen der Corona-Infektion (Long Covid), die bei Kindern viel seltener als bei Erwachsenen vorkommen.
Auf der anderen Seite der Waagschale fallen hypothetische Spätfolgen stärker ins Gewicht, weil über das sich entwickelnde Immunsystem von Kindern relativ wenig bekannt und die ihnen statistisch bevorstehende Lebenszeit vergleichsweise lang ist. Hinzu kommen bislang nicht abschließend geprüfte Hinweise auf - allerdings meist von selbst ausheilende - Herzmuskelentzündungen bei jüngeren Menschen, die möglicherweise mit den mRNA-Impfstoffen im Zusammenhang stehen könnten.
Politik erweckt mit Ungeduld kein Vertrauen
Dass der individuelle Nutzen für 12- bis 15-Jährige nicht eindeutig deren Risiken überwiegt, ist auch den Arzneimittelbehörden klar. Dies wäre allerdings eine formale Voraussetzung für die erfolgten Notfallzulassungen sowohl in den USA als auch in der EU gewesen. Die FDA betont deshalb, dass die Notfallzulassung "ein kritischer Schritt zur weiteren Eindämmung der immensen Belastung der öffentlichen Gesundheit" sei - sprich: es geht auch um den Schutz der Gesamtgesellschaft, nicht nur um Vorteile der Geimpften selbst.
Mit einer etwas anderen Formulierung zog sich die EMA aus dem juristischen Dilemma: Trotz der Unsicherheit bezüglich möglicherweise unerkannter seltener Nebenwirkungen überwiege der Nutzen des Biontech-Impfstoffs für 12- bis 15-Jährige die Risiken, und zwar "insbesondere für Kinder mit Vorerkrankungen, die das Risiko schwerer Verläufe von Covid-19 erhöhen".
Man muss dieses Votum dahingehend verstehen, dass der Impfstoff nur für Kinder mit Vorerkrankungen uneingeschränkt empfohlen wird. Dass deutsche Politiker trotzdem lautstark die Impfung aller Kinder fordern, ohne die Stellungnahme der dafür zuständigen Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut abzuwarten, dürfte nicht gerade zur Vertrauensbildung in der Bevölkerung beigetragen haben.
"Herdenimmunität" ist sowieso illusorisch
Die eilige Impfung der 12- bis 15-Jährigen ist auch nicht erforderlich, um das ominöse Ziel der sogenannten "Herdenimmunität" zu erreichen. Trotz der gerade aufgegebenen Priorisierung werden die Älteren und andere vulnerable Gruppen bis zum Schulanfang weitgehend durchgeimpft sein. Insbesondere in Teilen der jüngeren und weniger gefährdeten Bevölkerung wird sich das Virus dagegen weiterhin ausbreiten. Wie stark die deshalb zu erwartende Herbstwelle sein wird, hängt wesentlich von der Quote der Impfverweigerer unter den Erwachsenen ab und nicht davon, ob auch die 12- bis 15-Jährigen geimpft sind.
Hinzu kommt, dass bis dahin mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Varianten in Europa unterwegs sein werden, die auch Geimpfte und Genesene infizieren können. Die Erkrankungen werden deshalb in der Regel harmlos und nur selten tödlich verlaufen. Bei einer allgemein niedrigen Inzidenz lassen sich vereinzelte Ausbrüche in Schulen und Kitas auch durch Schnelltests, Gruppentrennung und effektive Nachverfolgung kontrollieren.
Da bis zum Schulanfang noch keine Impfstoffe für Kinder unter 12 Jahren zur Verfügung stehen werden, kann auf die bewährten nicht-pharmazeutischen Schutzmaßnahmen ohnehin nicht verzichtet werden. Nur wenn die Politik jetzt damit beginnt, die Schulen dafür auszustatten, können die Kinder im Herbst wieder ein halbwegs normales und unbeschwertes Leben führen. Das ist allemal sinnvoller als weiter von einer "Herdenimmunität" zu träumen, die bei einem hoch-ansteckenden und extrem variablen Erreger wie Sars-CoV-2 ohnehin illusorisch ist.
Kein epidemiologischer Drang zur Eile
Schließlich wäre eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder derzeit auch unter ethischen Gesichtspunkten bedenklich. Dem momentan noch nicht bestimmbaren Restrisiko steht kein adäquater gesundheitlicher oder sozialer Vorteil für die Kinder gegenüber. Da die Risikogruppen im Herbst weitgehend geschützt sein werden und eine Herdenimmunität ohnehin - jedenfalls bis dahin - nicht erreichbar ist, besteht auch kein epidemiologischer Drang zur Eile.
In einigen Monaten werden die Sicherheitsdaten Hunderttausender Impfungen von 12- bis 15-Jährigen aus den USA zur Verfügung stehen (auch das Moderna-Vakzin wird dort voraussichtlich in Kürze für diese Altersgruppe zugelassen). Auf deren Grundlage werden sich zumindest die kurzfristigen Risiken wesentlich besser einschätzen lassen als dies derzeit möglich ist. Zusätzlich werden voraussichtlich bis Ende des Jahres auch Untereinheiten-Vakzine zur Verfügung stehen, bei denen die Langzeiteffekte eher anhand bekannter Wirkprinzipien abgeleitet werden können als bei den vollkommen neuartigen mRNA-Impfstoffen.
Diese Entwicklungen sollten wir abwarten, bevor wir die weitreichende Entscheidung treffen, die uns nachfol-gende Generation mit einem wenig erforschten Wirkprinzip zu impfen. Unsere Kinder haben einen Anspruch darauf, dass wir für ihre Zukunft jedes erdenkliche Restrisiko ausschließen, auch wenn es uns noch so gering erscheint.
Quelle: ntv.de
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