Zukunft der Staaten: National, irrational, katastrophal

  21 März 2016    Gelesen: 707
Zukunft der Staaten: National, irrational, katastrophal
Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise - die Probleme dieser Zeit kann kein Land allein lösen. Trotzdem ertönt der Ruf nach einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat. Welch unvernünftiger Irrweg.
Einfache Wahrheiten sind nur scheinbar simpel. Zum Beispiel diese: Ein Staat, der seine Grenzen nicht sichern kann, verliert seine Staatlichkeit.

Seit Monaten geistert dieser Satz in Abwandlungen durch die politischen Debatten. Klingt erst einmal einleuchtend. Aber was heißt das eigentlich konkret? Gegen wen oder was soll ein Staat seine Grenzen sichern - gegen Flüchtlinge, Terroristen, Importgüter, Infektionskrankheiten, Giftstoffe, Ideen, Informationen? Müssen wir uns wirklich auf nationalstaatliche Inseln zurückziehen, um auch künftig noch sicher leben zu können?
Wir erleben derzeit eine deutliche Akzentverschiebung. Es ist noch nicht lange her, da war die fortschreitende Öffnung der Grenzen eine Gewissheit. Eine weltweite Bewegung wollte die engen Begrenzungen der Staatlichkeit einreißen. Unaufhaltsam werde die Globalisierung voranschreiten, wurde prophezeit. Ob im etablierten Westen, ob im ex- oder noch-kommunistischen Osten. Ob in den bis dahin abgeschotteten Demokratien Lateinamerikas und Indiens.

1990 hatten die Bürger es satt, in kleinen, stagnierenden Volkswirtschaften zu verharren. Der nationale Mief der Nachkriegsjahrzehnte sollte verfliegen. Daten-, Güter- und Kapitalströme würden dafür sorgen, dass der Staat an Bedeutung, an Kontrollmöglichkeit und an Steuerungsfähigkeit verlöre, dass auch kulturelle Barrieren abgeschliffen würden, hofften damals viele.

Nun hat eine Gegenbewegung eingesetzt: EU-Mitglieder schließen und sichern wieder Grenzen, die sie bisher unbedingt offen halten wollten. Im US-Vorwahlkampf ist der Schutz vor ausländischen Gütern, vor Zuwanderern und Andersgläubigen zum rhetorischen Refrain geworden. Autoritär regierte Staaten wie China, Russland oder die Türkei versuchen derweil, sich gegenüber geistigen Einflüssen von außen abzuschotten.

Drastisch haben sich die Prioritäten verschoben. Die Bürger suchen wieder Sicherheit durch den Staat, gerade in Europa. Dafür nehmen sie Einschränkungen ihrer Freiheit in Kauf. Zuwanderung und Terrorismus sehen die Europäer aktuell als ihre größten Probleme, wie Umfragen im Auftrag der EU-Kommission zeigen. In den vergangenen Jahren stand noch regelmäßig die Arbeitslosigkeit an der Spitze der Dringlichkeiten. Nun finden überraschend viele Menschen Protektionismus positiv (38 Prozent) und Globalisierung negativ (39 Prozent).

Das Schutzbedürfnis der Bürger steigt

Der Stimmungswandel ist verständlich. Hoffnungen auf unbegrenzt steigenden Wohlstand sind spätestens seit der großen Rezession von 2008 und 2009 erschüttert. Der seither herrschende Dauerkrisenmodus verschärft Verteilungskonflikte. Wo diese ideologisch aufgeladen werden, gedeihen Terror und Krieg. Entsprechend steigt das Sicherheitsbedürfnis der Bürger. Und Regierende sind gern bereit, Schutz zu versprechen, weil sie ihre Macht dadurch zu mehren hoffen. (Übrigens: Angela Merkel, die schonungslos nüchterne Kanzlerin, ist in dieser Hinsicht eine rare Ausnahme.)

Die Regierenden sichern also Grenzen (Österreich, Ungarn), bekämpfen tatsächliche und vermeintliche Terroristen (Türkei), führen unerklärte Kriege (Russland) oder versprechen, Mauern gegenüber Nachbarländern zu errichten und Zölle gegenüber den wichtigsten Handelspartnern zu verhängen (US-Kandidatenanwärter Donald Trump). Alles nach dem Motto: Ein Staat, der seine Grenzen nicht sichern kann, verliert seine Staatlichkeit.

Es stellen sich drei Fragen:

Werden sie damit Erfolg haben?
Ist der Nationalstaat eigentlich noch die richtige Organisationsform, um mit modernen Problemlagen umzugehen?
Und wozu sind Staaten überhaupt da?
Die Antworten lauten: Nein. Nein. Und: um die Dinge zu regeln, die die Bürger nicht privat regeln können. Aber eines nach dem anderen.

Erfolgsgeschichte der Superstaaten

Mit dem kalten Blick des Ökonomen betrachtet, besteht die zentrale Aufgabe des Staates darin, öffentliche Güter bereitzustellen - all jene Einrichtungen und Institutionen, die durch rein private Initiative nicht entstehen würden, die aber gebraucht werden, um das gedeihliche Zusammenleben und Wirtschaften zu fördern.

Die Rolle des Staates ist im Laufe der Jahrhunderte immer weiter gewachsen. Je komplexer Gesellschaften wurden, desto mehr Institutionen brauchten sie, um kollektive Probleme zu bearbeiten - Gerichtsbarkeit, Armee, Polizei, Bildungseinrichtungen, soziale Sicherung, Umweltschutz, Datenschutz...

Gerade im 19. Jahrhundert wuchsen die staatlichen Aufgaben enorm. Binnen weniger Jahrzehnte entwickelten sich ländliche Agrargesellschaften zu großräumigen Industriegesellschaften. Großflächige Verkehrsnetze wurden benötigt, um Industriegüter zwischen den neu entstandenen Großstädten zu transportieren. Schulen und Hochschulen statteten die Industrie mit qualifizierten Beschäftigten aus. Sozialversicherungen schufen ein Auffangnetz gegen die Wechselfälle des Lebens, für die in den Städten keine stabilen Familienverbände mehr bereitstanden. Kleinräumige feudale Strukturen verloren an Bedeutung. Gesellschaften wurden größer und anonymer.

Um effektiv öffentliche Aufgaben erfüllen zu können, vereinheitlichten und vergrößerten die Staaten damals ihre Territorien. Entsprechend entstand das Deutsche Reich 1871 aus dem Deutschem Zollverein, als es ökonomisch opportun erschien. Andere, wie England und Frankreich, etablierten ausgedehnte Kolonialimperien. Die USA wurden zum kontinentumspannenden Großstaat. Die internationale Zusammenarbeit wurde intensiviert.

Rückbezug auf immer kleinere staatliche Einheiten

Seine Legitimation bezieht ein Staat daraus, dass er gesellschaftliche Probleme lösen kann: dass er Wohlstand, Sicherheit und Freiheit produziert. Doch viele Fragen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind, lassen sich nicht mehr innerhalb nationalstaatlicher Grenzen lösen.

Humanitäre Katastrophen wie in Syrien, die Schädigung des Weltklimas durch Treibhausgase, wild fluktuierende Kapitalströme - all das übersteigt die Möglichkeiten heutiger Nationalstaaten. Deshalb schwindet das Vertrauen in ihre Institutionen. Deshalb scheitern nationale Führungsfiguren. Egal, ob es Regierende, Oppositionelle oder Extremisten sind. Ihre Heilsversprechen werden sie nicht einlösen können.

Einfache Wahrheiten sind nur scheinbar simpel.

Rational betrachtet müssten wir heute alles daran setzen, den Nationalstaat zu überwinden. Weil seine Reichweite nicht mehr reicht. Um die anstehenden Probleme zu lösen, müssten Teile staatlicher Souveränität auf internationale Ebenen verlagert werden. Ein Ansatz, den Westeuropa über Jahrzehnte verfolgt hat, durch die Vertiefung der EU und den Euro.

Doch die ungelösten Dauerkrisen der vergangenen Jahre - von der Finanz- über die Euro- bis zur Flüchtlingskrise - haben die Glaubwürdigkeit der EU-Institutionen ramponiert. Statt die europäische Ordnung zu vervollkommnen, erleben wir nun einen Rückbezug auf immer kleinere staatliche Einheiten.

Quelle : spiegel.de

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