Der russische Angriff auf Kiew ist zunächst vorbei, Moskau hat den Truppen-Rückzug aus dem Raum der ukrainischen Hauptstadt weitgehend abgeschlossen. Während der Westen die Gräueltaten von Butscha und anderen Vororten Kiews verurteilt, richtet sich Wladimir Putins Blick gen Osten. Dort will der Machthaber nun die Angriffe verstärken und eine volle Offensive starten - wohl in der Hoffnung, am Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, dem russischen Feiertag am 9. Mai, eine Art Kriegserfolg zu präsentieren.
Zu Kriegsbeginn kontrollierte die Ukraine etwa zwei Drittel des Donbass. Laut der russischen Nachrichtenagentur Tass wurden im ersten Kriegsmonat in den Regionen Donezk und Luhansk 54 beziehungsweise 93 Prozent des Landes eingenommen. Das russische Militär erklärte bereits vor dem Kiew-Rückzug, die "erste Phase der Operation" sei weitgehend abgeschlossen, sodass sich die russischen Truppen auf ihr "oberstes Ziel - die Befreiung des Donbass" konzentrieren könnten.
Moskau plant auch laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den gesamten Donbass zu erobern und sich einen Korridor zur besetzten Krim zu erkämpfen. Er sprach von "einer entscheidenden Phase des Krieges". "Wir sehen jetzt eine erhebliche Truppenbewegung weg von Kiew, um sich neu zu formieren, neu zu bewaffnen und neu zu versorgen. Und sie verlagern ihren Schwerpunkt in den Osten. In den kommenden Wochen erwarten wir einen weiteren russischen Vorstoß in der Ost- und Südukraine, um zu versuchen, den gesamten Donbas einzunehmen und eine Landbrücke zur besetzten Krim zu schaffen", sagte Stoltenberg vor dem Treffen der NATO-Außenminister am Dienstag in Brüssel.
Ukrainische Armee einkesseln
Zwar hat Russland laut des US-basierten Institute for the Study of War (ISW) die aus Kiew abgezogenen Truppen noch nicht wieder in die Kämpfe in der Ostukraine einbezogen und das Institut schätzt, dass sie "wahrscheinlich erst nach einiger Zeit wieder kampffähig sein" würden. Doch ein unbestätigter Bericht des ukrainischen Militärgeheimdienstes deute darauf hin, dass Moskau bald eine Brigade, die in Butscha Kriegsverbrechen begangen haben soll, in die Ostukraine schicken könnte. Laut des Berichts soll Russland hoffen, dass schuldige Mitglieder dieser Einheit und Zeugen ihrer Kriegsverbrechen in den Kämpfen im Osten getötet werden.
Die russischen Streitkräfte haben bereits eine humanitäre Katastrophe im Osten der Ukraine ausgelöst und die weiterhin heftig umkämpfte Stadt Mariupol in Schutt und Asche gelegt. Die humanitäre Lage in der eingekesselten Hafenstadt verschlechtere sich weiter, teilte das britische Verteidigungsministerium auf Grundlage von Geheimdienstberichten mit.
Die stärksten und größten Einheiten Kiews hatten sich schon über Jahre im Osten befunden wegen der Kämpfe in den Separatisten-Regionen Donezk und Luhansk. Sie sollen zwar empfindliche Verluste zu bekunden haben, das ukrainische Militär ist im die beiden Gebiete umfassenden Donbass aber nicht besiegt. Das will Moskau nun ändern und plant wohl, aus dem Norden, Osten und Süden vorzurücken, um die ukrainische Armee vor Ort einzukesseln.
Hauptziel Slowjansk
Der Donbass hat für Putin eine besondere Wichtigkeit, weil er seinen Angriff auf die Ukraine unter anderem wiederholt mit der unbegründeten Anschuldigung legitimieren wollte, die Ukraine habe im Osten einen Völkermord begangen. Außerdem ist er das bedeutendste Industriegebiet der Ukraine. Das viertgrößte Kohlefeld Europas mit schätzungsweise Reserven von über 10 Milliarden Tonnen befindet sich dort.
Die russische Offensive im Osten dürfte zu weiteren schweren Kämpfen und Belagerungen führen. Ukrainische Behörden riefen die Bewohner des Bezirks Luhansk bereits auf, die Region zu verlassen, solange das noch möglich sei. Der Gouverneur der Region, Serhij Gaidaj, sagte bezüglich der russischen Streitkräfte: "Wir glauben, dass sie sich auf einen massiven Angriff vorbereiten." In Siewierodonezk nordwestlich der Stadt Luhansk standen am Nachmittag zehn Hochhäuser nach russischem Beschuss in Flammen, teilte der Bezirksgouverneur von Luhansk mit. Das ISW sieht in der Stadt Slowjansk mit etwa 125.000 Einwohnern ein Hauptziel, weil die Kontrolle über sie es Russland ermöglichen würde, nach Westen vorzustoßen und sich mit den russischen Truppen zu verbinden, die vom Südosten aus der Region Luhansk vorrücken wollen.
Russische Verstärkung bereitet demnach den Vorstoß südöstlich von Isjum in Richtung Slowjansk vor, es handelt sich dabei um Einheiten der Armee, die sich im Raum Charkiw-Sumy aufgehalten hatten. Das Institut prognostiziert, dass die Angriffe zur Einnahme der Regionen Donezk und Luhansk "wahrscheinlich scheitern werden", wenn die Ukraine Slowjansk hält.
Frieden nach Donbass-Annektierung?
Es wird gemutmaßt, dass Putin die Gebiete bis zum 9. Mai erobern möchte. Dann hätte er nach dem Abzug aus Kiew eine Art Erfolg vorzuweisen zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland. An dem wichtigsten nationalen Feiertag fand zu Sowjet-Zeiten eine Militärparade zum Roten Platz statt, die Putin seit dem Beginn seiner Regierungszeit wieder samt Sowjet-Symbolen einführte. Ein nächster Schritt für Moskau könnte anschließend die Annektierung des Donbass sein nach dem Vorbild der Krim 2014. Sollte Kiew die Gebiete aufgeben und an Russland abtreten, was momentan sehr unwahrscheinlich erscheint, könnte ein Ende des Krieges näher rücken.
Einige Beobachter sind auch der Ansicht, dass der Rückzug aus Kiew und der Fokus auf den Osten die Einsicht von Putin widerspiegeln könnte, dass sein Plan für einen Blitzkrieg in der Ukraine gescheitert ist. Das könnte ihn dazu gezwungen haben, seine Ziele einzugrenzen, seine Taktik inmitten eines katastrophalen Krieges zu ändern und sich mutmaßlich mit der Eroberung des Donbass zufriedenzugeben. Oder aber er will nur Zeit gewinnen.
Die Ost-Offensive könnte nämlich auch weiterhin lang anhaltende Kampfhandlungen bedeuteten. Selbst wenn russische Truppen die Regionen Donezk und Luhansk einnähmen: Das Gebiet von etwa 60.000 Quadratkilometern (zum Vergleich: Bayern ist gut 70.000 Quadratkilometern nur wenig größer), dürfte sehr schwer zu kontrollieren sein. Der Donbass hat zwar viele russischsprachige Einwohner, gilt aber seit dem Angriffskrieg nicht mehr als pro-russisch.
Quelle: ntv.de
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