Der seltsamste CL-Sieger aller Zeiten

  29 Mai 2022    Gelesen: 960
  Der seltsamste CL-Sieger aller Zeiten

Der FC Liverpool dominiert das Finale der Champions League, aber Real Madrid gewinnt. Der Triumph der Mannschaft von Routinier Carlo Ancelotti ist die Krönung einer bemerkenswerten Reise. Die Königlichen trotzen dabei jeder Logik des modernen Fußballs.

Luka Modrić war entkräftet ausgewechselt worden. Und mochte nicht mehr hinschauen. Auch Marcelo, diese Legende von Real Madrid, die im europäischen Fußball alles gesehen hatte, hatte noch Zweifel im Blick, als die fünfte Minute der Nachspielzeit im Finale der Champions League zwischen den Königlichen aus der spanischen Hauptstadt und dem FC Liverpool angebrochen war. Das Team dieser alten Helden führte noch immer mit 1:0 gegen die Mannschaft von Jürgen Klopp. Der war All-in gegangen und hatte sein Team auf volle Attacke gepolt - Abwehrhüne Virgil van Djik gab die kopfballgefährliche Sturmwucht, um den Niederländer herum wirbelten vier kleine Angreifer. Real wankte, Real kämpfte, Real fiel aber nicht. Abpfiff. Erleichterung. Tränen.

Die Madrilenen hatten ihre bemerkenswerte Reise durch Europa vollendet. Sie hatten tatsächlich das Finale der Königsklasse im Stade de France gewonnen, das von einem fürchterlichen Chaos beim Einlass der Zuschauer überschattet worden war. Real hatte gewonnen, gegen alle Widerstände. Niemand hatte der Mannschaft zu keiner Zeit diesen Erfolg zugetraut. Bis zum Endspiel waren die Königlichen nie Favorit in der Knockoutphase gewesen. Nicht gegen den blamierten Milliarden-Depp Paris St. Germain, der bereits im Achtelfinale kollabiert war. Nicht gegen Titelverteidiger FC Chelsea, nicht gegen das so dominante Manchester City des verzweifelten Josep Guardiola. Und nun auch nicht gegen die Reds. Warum das so war? An der Antwort auf diese Frage arbeiten sich Experten seit Wochen ab - und scheitern. Real ist auf eine bizarre und faszinierende Weise erfolgreich, die jeder Logik des modernen Fußballs widerspricht.

Und vor allem jeder Statistik. Während Liverpool das Tor der Königlichen, bestens behütet vom so überragenden Thibaut Courtois, mit Abschlüssen zupflasterte, gönnte sich Real gerade einmal drei Versuche. Nur einer ging aufs Tor, aber der saß. Der von Vinicius Junior, in der 59. Minute. Ob das verdient war? Diese Frage stellt sich nicht. Nicht für dieses Real. Denn dieses Real ist nicht mehr das "weiße Ballett", das es jahrelang war. In dieser personellen Besetzung. Oder auch mit den ikonischen Zauberern Raul, Luis Figo, Zinedine Zidane oder Cristiano Ronaldo. Wenn man so will, ist das Real des Frühsommers 2022 ein geniale Altmeistertruppe im Blaumann. Die Magie ist der Maloche gewichen - garniert mit den vielleicht wirklich letzten großen Momenten der alternden Helden. Karim Benzema, der derzeit wohl beste Stürmer der Welt, ist 34 und ein halbes Jahr alt. Modrić, der Fußball-Mozart, will 37. Auch Kroos, Casemiro und Courtois haben vorne bereits ein 3 stehen.

Obacht mit Abgesängen!

Aber Obacht mit Abgesängen! Die werden seit Jahren auf dieses Ensemble angestimmt, nur wehren sich die Stars in den entscheidenden Momenten einer Spielzeit arg beharrlich sich diesem Schicksal zu ergeben. Ebenso wie Trainer Carlo Ancelotti. Auch dessen großartige Karriere schien bereits vorbei - seit er bei FC Bayern gescheitert war. Nach einem desaströsen 0:3 bei Paris St. Germain flog er am 28. September 2017 in München raus. Eine Entscheidung, die den Klub mächtig aufribbelte, denn sie mochten den gemütlichen Maestro doch wirklich so gerne, verzweifelten aber an dessen Gemütlichkeit in der Trainingsgestaltung. Und schließlich auch an den Ergebnissen. Ancelotti zog weiter. Aber weder beim SSC Neapel, noch beim FC Everton arbeitete er so glorreich wie in den Jahren zuvor. Seine Karriere, sie schien auszutrudeln.

Doch nun ist er wieder da. In Paris, wo einst sein Bayern-Schicksal besiegelt worden war (allerdings im Parc de Princes), krönt er sich zur Legende. Als erster Trainer gewinnt er viermal den Henkelpott, nachdem er erst vor wenigen Wochen der erste Trainer gewesen war, der in den fünf europäischen Topligen Meister wurde. Was für eine irre Geschichte. Wieder eine gegen alle Widerstände. Dass er vor einem Jahr nach Spanien zurückgekehrt war, das war eine Sensation. Man soll mit Superlativen ja vorsichtig sein. Aber ja, es war eine Sensation.

Er löste Zinedine Zidane ab, der seinen Job vorzeitig gekündigt und sich anschließend in einem bitteren Abschiedsbrief über die Führung von Real Madrid beklagt hatte. Anelotti, ein Nothelfer? Dios mio! Real stattete den Routiner mit einem Dreijahresvertrag aus. Seine Mission lautete als nicht nur "Retter in der Not", wie die "AS" schrieb, seine Mission lautete auch Umbruch. Ein Wort, bei dem sie in München in Kombination mit Ancelotti heftig Herzrasen bekommen. Auf den Wegfall des starken Rückgrats Philipp Lahm und Xabi Alonso fand er keine Lösung. Wilde und wildeste Rotation brachten keinen Erfolg. Und hätte der Italiener auf das kritische Lupfen der Augenbraue nicht ein Patent, man wäre im Kollektiv geneigt gewesen, mimisch zu staunen.

Doch dieser seltsame Plan der königlichen Führung wurde zu einer Weltidee! Real wurde souverän Meister und Champion in Europa. Eine bemerkenswerte Randnotiz: Sieben Mal bestritt Madird ein Finale der Königsklasse, siebenmal verließ der Klub das Feld als Sieger. Jürgen Klopp, der Coach des unterlegenen FC Liverpool, bleibt da nur staunen. Viermal stand er im Finale, dreimal unterlag er. Lediglich 2019 triumphierte er. Kleinreden darf man seine Geschichte an der Anfield Road deswegen allerdings keineswegs, auch er schafft beim Arbeiterklub aus dem Nordosten Englands Herausragendes. Vorwerfen lassen muss er sich an diesem Samstag nichts, seine Mannschaft mühte sich redlich, war dominant, allerdings fehlte nach einer extrem zehrenden Saison die Power gegen die leidenschaftlich verteidigenden Madrilenen, die sich mit ihrer Selbstüberzeugung doch Real zu sein, nie aus der Ruhe bringen ließen. Wohl nie zuvor gab es einen solch seltsamen, aber verdienten Henkelpott-Champion.

Der Mann, der die Spieler liebt

Ein Problem mit der Kraft hatte das Team von Ancelotti dagegen nicht. In Erinnerung an seine Zeit in München durchaus eine witzige Pointe. Denn beim Rekordmeister gruselt es sie vermutlich immer noch, wenn sie daran denken, wie gemütlich er so ein Fußball-Training organisierte. In Madrid traf die coachende Lässigkeit dagegen auf eine Mannschaft, die genau das brauchte, was der Italiener ihnen gab. Die Führung als Freund. Er vertraut seinen Spielern, er fragt sie um Rat. Legendär sind die Szenen, als sich Kroos, Modric und Marcelo im Halbfinal-Rückspiel gegen die Citizens um den Italiener scharten und sich austauschten.

Legendär auch: Sein Triumph nach der gewonnenen Meisterschaft. Ancelotti genoss den Moment mit dicker Sonnenbrille und Zigarre. Ein Bild für die Fußball-Götter. Er genoss den Moment mit seinen Spielern. Die hatte er wieder einmal für sich gewonnen. Dieser Versteher, Kümmerer, dem die Kabine (der Rückhalt) wichtiger ist als das durchdachte Spiel, die taktische Nuance. Über Ancelotti sagte einst Philipp Lahm, dass er in einer Woche nicht das rede, was Pep Guardiola in drei Stunden sage. Ancelotti gibt den Spielern das stumme Vertrauen, sie liefern. Fußball ist manchmal einfach. Ancelotti sieht das genau so. "Ein Teil der individuellen Qualität der Spieler ist der Teamgedanke. Sie sind in der Lage mitzudenken. Natürlich ist die individuelle Klasse wichtig, aber sie ist nicht alles. Man muss auch Herz und Intelligenz auf dem Platz zeigen", sagte er nach Triumph nun. Er drückte seine Spieler, herzte sie, liebte sie. Marcelo, diese Legende, bekam von Benzema die Kapitänsbinde, er durfte dann als Erster den Pott in den Himmel recken. Was für eine Szene. Eine fürs Herz. Marcelo wird den Klub nach 15 Jahren verlassen. Mit Ferland Mendy gibt es bereits einen Nachfolger, einen sehr guten. Ob es wirklich ein Umbruch braucht? Ancelotti wird das anders sehen.

Quelle: ntv.de


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