Expertin: "Deutschland kann nicht einfach nur mitschwimmen"

  03 Juli 2022    Gelesen: 577
  Expertin: "Deutschland kann nicht einfach nur mitschwimmen"

ntv.de: Eine Woche Gipfel unter neuen Bedingungen - EU, NATO und G7 suchen Wege, um auf die Bedrohung aus Moskau zu reagieren. Wie groß ist die außerhalb der Ukraine?

Liana Fix: Putins Vertragsentwürfe, die er Ende letzten Jahres vorgelegt hat, sagen ganz klar, dass es ihm neben der Ukraine auch darum geht, die Rolle der USA in Europa zu reduzieren und die hier herrschende Sicherheitsordnung nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten. Das ist kein regionaler Krieg irgendwo im Osten, sondern Putins Versuch, die ganze Ordnung, die seit 1990 besteht, umzuwerfen. Sollte er bei diesem Versuch erfolgreich sein, dann wird er sich ermutigt fühlen, weiterzugehen. Für die NATO würde die Ukraine, falls es Putin gelingt, sie zu okkupieren, zu einem russischen Aufmarschgebiet, vergleichbar mit Belarus.

Welche Rolle übernimmt Deutschland im westlichen Gegenentwurf dazu?

Mit seinem starken politischen und wirtschaftlichen Gewicht kommt Deutschland innerhalb der NATO und innerhalb Europas eine wichtige Rolle zu, aber auch gerade aufgrund seiner Lage in Zentraleuropa. Aus dieser Lage wächst Verantwortung für die Ostflanke, also die mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten.

Mehr Verantwortung als für andere Partnerländer?

In Zeiten des Kalten Krieges war Deutschland Frontstaat und hat von den Partnern Schutz und Unterstützung erhalten. Nun hat sich die Grenze weiter nach Osten verschoben, nach Polen und zum Baltikum, und die Staaten erwarten nun zurecht dasselbe. Da kann Deutschland nicht einfach nur "mitschwimmen", sondern muss eine aktive Rolle in der Verteidigung dieser Ordnung übernehmen, von der das Land selbst so stark profitiert hat.

Hat Deutschland diese Bereitschaft nun gezeigt?

Momentan trägt Deutschland seinen Teil bei, kommt seinen Verpflichtungen nach: schwere Waffen für die Ukraine, EU-Kandidatenstatus, der Kanzler in Kiew. Was wir nicht sehen, ist eine deutsche Führungsrolle, die etwa vergleichbar wäre mit der, die Angela Merkel 2014 nach der Annexion der Krim und dem Kriegsausbruch in der Ostukraine übernommen hat. Die westliche Reaktion im Jahr 2022 ist sehr stark von der Führung der USA abhängig. Da ist für Deutschland noch Luft nach oben.

Angesichts der neuen, schwierigen Weltlage schien die NATO in Madrid einen ziemlichen Lauf zu haben. Norderweiterung durch, massiv mehr Budget, ständige Truppen an der Ostflanke.

Spannend ist dabei, wie die NATO ihren Ansatz entscheidend verändert. Wir hatten bislang einen "Stolperdraht-Ansatz". Es waren einige NATO-Truppen, auch der Bundeswehr, im Baltikum und in Polen vor Ort, um zu garantieren, dass im Falle einer russischen Provokation weitere NATO-Truppen zur Hilfe eilen. Nun wird sichergestellt, dass NATO-Truppen so an der Ostflanke stationiert werden, dass Russland nicht die Möglichkeit hat, diese Gebiete zu überrennen, sondern sie vor Ort verteidigt werden können. Nicht nur die Anzahl der Soldaten, die mobilisiert werden sollen, nämlich 300.000, ist neu, sondern auch die Reaktionszeit ist viel kürzer als bisher, also die Zeit bis diese Truppen zur Verteidigung bereit wären.

Gleichzeitig verletzt diese Stationierung die NATO-Russland-Grundakte, in der sich das westliche Bündnis 1997 verpflichtet hat, keine Kampftruppen dauerhaft an der Ostflanke zu stationieren. Wie hoch ist das Risiko, dass man damit eingeht?

Die Stationierung ist kein Bruch mit der NATO-Russland-Grundakte, denn die gilt unter dem Vorbehalt, dass die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung gewahrt sind, unter anderem der Respekt für die territoriale Integrität. Russland hat diese Prinzipien aber bereits 2014 mit der Annexion der Krim gebrochen.

Damals hat die NATO darauf verzichtet, als Reaktion permanente Truppen in den östlichen Mitgliedsstaaten zu etablieren.

2014 war die Idee, keine Truppen in den baltischen Staaten permanent zu stationieren, sondern rotierend, um die Tür offen zu halten und auch Russland die Möglichkeit zu geben, wieder zu den Prinzipien dieser Zusammenarbeit zurückzukehren. Nun hat der Angriff auf die Ukraine sehr deutlich gezeigt, dass Russland diese Prinzipien nicht mehr verfolgt. Die Akte ruht gewissermaßen.

Aufrüstung, Abschreckung - das sind Begriffe, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum auftauchten. Erwartet uns nun eine Dekade, in der wir genau dahin zurück müssen?

Ja, da wir nicht damit rechnen können, dass Moskau seine Außenpolitik in irgendeiner Form verändern wird. Russland hat sich zu einer Diktatur gewandelt, und die Motive hinter seiner imperialistischen Außenpolitik werden von der russischen Seite klar formuliert und zur Schau gestellt. Wenn der russische Präsident sich selbst mit Peter dem Großen vergleicht, gibt es da überhaupt kein Vertun. Russland bedroht nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte Sicherheitsordnung, in der wir leben. In dieser neuen Welt versteht Russland die Sprache der Abschreckung.

Wie wichtig sind Atomwaffen dabei?

Zwischen der NATO und Russland basiert die Abschreckung darauf, dass die NATO über Nuklearwaffen verfügt, insbesondere US-Nuklearwaffen. Die Ukraine hat die Nuklearwaffen, die noch aus Sowjetzeiten auf ihrem Territorium stationiert waren, 1994 an Russland zurückgegeben. Im Gegenzug hat Russland garantiert, dass die territoriale Integrität des Landes gewahrt wird. Die Abschreckung zwischen der Ukraine und Russland hat nicht mehr bestanden und die Ukraine war militärisch schutzlos. Konsequenz daraus sollte aber nicht sein, dass sich nun jeder Staat nuklear bewaffnet.

Sondern?

Der Kreml nimmt nur Länder ernst, die über Nuklearwaffen verfügen oder unter einem entsprechenden Schutzschirm stehen. Und wenn eine Macht wie Russland selbst mit Nuklearwaffen droht - das ist etwas, das wir in Zeiten des Kalten Krieges nicht gesehen haben - und sich nur abschrecken lässt, wenn man militärisch genauso mächtig ist wie sie selbst, dann schadet das dem Ziel nuklearer Abrüstung. Mit Russland kann zur Zeit nicht an einer nuklearwaffenfreien Welt gearbeitet werden, denn die Atomraketen sind das letzte verbliebene Merkmal einer Großmacht, das Russland noch zu seiner aktuellen Größe verhilft.

Gleichzeitig scheint Putin weniger isoliert als viele meinen. Kurz vor dem G7-Gipfel trafen sich die BRICS-Staaten - Russland, Brasilien, Indien, China, Südafrika und diskutierten wirtschaftliche Strategien. Mit Russlands Krieg hatte dort niemand Probleme, und die Länder stehen für 40 Prozent der Weltbevölkerung.

Indien zum Beispiel ist abhängig von russischen Militärlieferungen und kann deswegen nicht eindeutig Position beziehen im Ukrainekrieg. Gleichzeitig versucht es, mit einer Art Schaukelpolitik Neutralität zu wahren. Das bedeutet aber nicht, dass Russland den Wettbewerb um die Zustimmung aus diesen Ländern bereits gewonnen hätte. Russland benutzte den BRICS-Gipfel, um darzustellen, dass man Freunde in der Welt hat. Tatsächlich ist aber eine kritische Haltung zum Westen der kleinste gemeinsame Nenner, der die BRICS-Staaten vereint. Ansonsten gibt es sehr viele Divergenzen, sowohl mit Blick auf das wirtschaftliche Wachstum als auch politische Differenzen, wie zum Beispiel zwischen Indien und China.

Die G7 hatten Indien und Südafrika nun auch für sich entdeckt und zu ihrem Gipfel eingeladen. Ein Abwerbungsversuch?

Einige Länder des globalen Südens vertreten aus unterschiedlichen Gründen von sich aus bereits eine west-kritische Haltung. Nun versucht Russland, gerade auch mit dem Narrativ, dass der Westen durch Sanktionen eine Mitschuld an der globalen Hungerkrise trägt, diese Länder des globalen Südens stärker an sich zu binden. Da ist es sehr wichtig, dem mit Fakten entgegenzustehen und deutlich zu machen, dass die Hungerkrise, die wir jetzt möglicherweise sehen werden, auf Russlands Krieg basiert und auf seiner Blockade von Getreideausfuhren aus der Ukraine in die Welt. Russland benutzt Hunger als Kriegswaffe.

Mit Liana Fix sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de


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