Russland hat den Gashahn zugedreht und fordert ein Ende der Sanktionen, bevor es Deutschland wieder über Nord Stream 1 beliefern will. Der große Aufschrei blieb diesmal jedoch aus. Monatelang bangten Politik wie Bevölkerung, wie kalt es wird und wie stark die Rezession, falls der Gasfluss versiegt. Inzwischen wird beinahe nebenbei zur Kenntnis genommen, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht mehr damit rechnet, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Gashahn wieder aufdreht. Der Minister selbst gibt sich sogar optimistisch, schließlich wurden die Speicherziele durch Importe aus anderen Ländern früher erreicht als geplant, LNG-Terminals auf den Weg gebracht, und die Industrie senkte ihren Verbrauch zuletzt deutlich. Die Initiative Energien Speichern (INES), ein Zusammenschluss von Betreibern deutscher Gas- und Wasserstoffspeicher, warnt dagegen vor zu viel Optimismus.
Denn zwei Variable in der Rechnung lassen sich im Moment noch gar nicht beziffern, wie Geschäftsführer Sebastian Bleschke im Gespräch mit ntv.de betont. Die entscheidende Größe sei, wie viel die Haushalte einsparen - das werde sich erst im Oktober richtig zeigen. Das Ziel der Bundesnetzagentur: 20 Prozent. In der ersten, etwas kälteren Septemberwoche, stieg der Verbrauch allerdings.
Die zweite Unbekannte: Wann erhält Deutschland Flüssiggas? Zum Jahreswechsel sollen zwar zwei staatlich gecharterte, schwimmende Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel in Betrieb gehen, ein drittes von einem privaten Konsortium in Lubmin; zwei weitere staatliche in Stade und Lubmin sollen Ende 2023 hinzukommen. Damit ist Bleschke zufolge allerdings noch nicht klar, dass die EU insgesamt im kommenden Winter tatsächlich mehr LNG erhält. "Das kann sein, ist aber sehr schwer einzuschätzen", sagt der Verbandschef. Für Deutschland haben die Importterminals aber sicherlich einen positiven Effekt. Denn die Pipelines aus Norwegen, Belgien und den Niederlanden würden bereits weitestgehend ausgeschöpft.
Gasmangel kann auch technische Gründe haben
Kornelia Stycz, Energiemarktexpertin vom Beratungsunternehmen Aurora Energy Research, verweist gegenüber ntv.de darauf, dass die Nachfrage nach Flüssiggas in Asien mit Wintereinbruch und Ende der strengen Corona-Maßnahmen steigen dürfte. "Dann würden wir auf dem LNG-Markt mit den asiatischen Märkten konkurrieren, und es würde potenziell weniger bei uns ankommen."
Deutschland importiert im Durchschnitt etwa so viel Gas, wie es durchschnittlich täglich verbraucht, wie Bleschke ausführt. Im Winter genügt diese Menge nicht für den aktuellen Verbrauch, dann wird auf gespeichertes Gas zurückgegriffen, das im Sommer eingespeichert werden kann. Wenn im Winter weniger importiert wird, könnten die Speicher zu schnell entleert werden - dann fehlt tatsächlich Gas. Ein Mangel könnte allerdings nicht nur in diesem Fall eintreten, erklärt Bleschke. Denn aus technischen Gründen lässt sich nur eine bestimmte Gasmenge ausspeichern: Je weniger Gas im Speicher ist, desto geringer der Druck und damit langsamer die Ausspeicherung. Das heißt, gerade zum Ende des Winters, wenn die Speicher bereits niedriger befüllt sind, steht den Verbrauchern womöglich nicht so viel Gas zur Verfügung, wie sie eigentlich abrufen wollen.
Bei niedrigen Speicherfüllständen könnten Gaskunden also zum Beispiel selbst bei nur vereinzelten kalten Tagen leer ausgehen. Dies würde zunächst die Industriekunden treffen, die nur geringere Gasmengen verbrauchen dürften. Das Heizen privater Haushalte sei europarechtlich geschützt, so Bleschke.
Die Wintertemperaturen könnten helfen
Ein milder Winter würde das Risiko eines Gasmangels aber deutlich senken. Die Bundesregierung dürfte die Wetterprognosen deshalb mit Argusaugen verfolgen - und Hoffnung schöpfen. ntv-Meteorologe Björn Alexander erwartet nach den aktuellen Vorhersagen - auch wenn Langzeitprognosen mit Vorsicht zu genießen seien - die kommenden Monate bis Februar als zu warm für die Jahreszeit. Dabei sei allerdings zu bedenken, dass auch insgesamt zu warme Monate sehr kalte Abschnitte beinhalten könnten. Zum Beispiel folgte im vergangenen Februar auf eine eisige Phase mit Schnee und starkem Nachtfrost ein rasantes Frühlingserwachen, wodurch der Monat insgesamt letztlich sogar etwas zu warm war.
Selbst mit deutlich weniger russischem Gas sind die Speicher aktuell bereits zu fast 87 Prozent gefüllt, bis 1. November sollen es 95 Prozent sein. Im Moment kann auch ohne Nord-Stream-Gas weiter eingespeichert werden. Die 95 Prozent hält Bleschke allerdings nur für erreichbar, wenn die Haushalte weniger verbrauchen, insbesondere im Oktober. "Wenn in den nächsten sieben Wochen schon viel Gas für das Heizen verbraucht wird, reduziert sich die Möglichkeit zur Einspeicherung stark." Denn die Importmengen seien bereits am Anschlag. Die 90-Prozent-Marke sollte nach seiner Einschätzung aber auf jeden Fall übertroffen werden können.
Seitens der Industrie rechnet Stycz von Aurora mit einer geringeren Nachfrage als in den vergangenen Wintern. "Wir erwarten, dass auch die politischen Maßnahmen zur Gaseinsparung einen Effekt haben werden, ein Steuerungsinstrument werden potenziell die Gas-Auktionen sein, die im Oktober starten sollen." Außerdem produzierten gasintensive Industrien zum Teil gar nicht mehr, so sei etwa die Ammoniak-Produktion in der EU um 70 Prozent gesunken.
Allerdings bleibt die Frage, ob zu 95 Prozent gefüllte Speicher Deutschland überhaupt durch den Winter tragen würden. Schließlich blieben die Importmöglichkeiten ohne russisches Gas im Winter reduziert, betont Bleschke. Die Unternehmen hätten zwar auf den starken Anstieg des Gaspreises reagiert. Dass die Industrie ihren Verbrauch im Juli um gut 21 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren senkte, werde im Winter aber nur geringfügig Einfluss auf den gesamten Gasverbrauch in Deutschland nehmen. "Die Industrie spart derzeit täglich über 300 Gigawattstunden ein, im Winter kann der Gasverbrauch an einzelnen Tagen aber auf über 5000 Gigawattstunden am Tag hochschnellen", rechnet der Verbandschef vor. Deshalb komme es nun vor allem darauf an, dass die Haushalte beim Heizen sparen.
Bei normalen Temperaturen und einem entsprechendem Heizverhalten könnten die Speicher im März, April bereits sehr stark entleert worden sein, prognostiziert Bleschke. Selbst wenn nicht, bleibt spannend, zu wie viel Prozent die Speicher im nächsten Jahr gefüllt sein werden. In diesem Jahr seien sie mit 27 Prozent in die Einspeicherphase gestartet. Liegt der Wert im nächsten Jahr darunter, wird die Herausforderung noch größer. "Dann müssten wir zunächst einmal aufholen", so Bleschke. Die Bundesnetzagentur hatte Anfang August prognostiziert: "In allen Szenarien, auch denen ohne Gasmangel, wird es im nächsten Winter 23/24 ohne zusätzliche Gegenmaßnahmen, zum Beispiel höhere Verbrauchsreduktion, zu Versorgungsproblemen kommen."
Quelle: ntv.de
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