Jedenfalls lenkte Kapustin seinen trudelnden Abfangjäger in den Stößensee, eine Bucht der Havel zwischen den West-Berliner Bezirken Charlottenburg und Spandau, und starb wie Janow beim Aufschlag. Hätte sich der Pilot herauskatapultiert, wäre die Yak vielleicht in die benachbarten Wohngebiete Pichelsberg oder Pichelsdorf gestürzt.
Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt dankte den beiden Sowjets per Fernsehansprache, dass sie ihr Leben geopfert hatten, um West-Berliner zu schützen – im Kalten Krieg und zumal im geteilten Berlin eine nicht selbstverständliche Geste. In den folgenden Wochen bargen britische Soldaten das Wrack und gaben es nach sorgfältiger Untersuchung an die Sowjets zurück.
So weit ist die Geschichte des Absturzes in den Stößensee bekannt. Doch steckte mehr dahinter. Das hat jetzt der neue Leiter des Alliiertenmuseums in Berlin-Dahlem, der Historiker Bernd von Kostka, herausgefunden. Er wertete dafür, nach einem halben Jahrhundert, bislang gesperrte britische Geheimdienstakten erstmals aus.
Begonnen hatte dieser Mittwoch wie jeder andere – oder fast. Denn es gab Probleme mit dem großen Allwetterabfangjäger Yak-28P, mit bis zu 19 Tonnen Startgewicht mehr als doppelt so schwer wie die MiG-21, der Standardjäger des Ostblocks.
Kapustin und Janow sollten die Yak-28P vom Flugplatz Finow, rund 40 Kilometer nordöstlich von Berlin, zum größeren Stützpunkt Köthen der sowjetischen Luftwaffe in Sachsen-Anhalt überführen, 150 Kilometer südwestlich der geteilten Stadt. Vor dem Start arbeiteten Mechaniker mehrere Tage lang an dem Jäger, um aufgetretene Probleme zu beheben.
Gegen 15.18 Uhr am 6. April 1966 startete die Yak und steuerte über West-Berlin hinweg nach Südosten. Damals war es üblich, dass sowjetische Düsenjäger die westlichen Sektoren der Stadt überflogen – eine routinemäßige Machtdemonstration, die dem Viermächtestatus entsprach.
Zwölf Minuten nach dem Start fielen gleichzeitig beide Triebwerke des Überschallflugzeugs aus. Bis zum Aufprall verblieben den Besatzungsmitgliedern nicht viel mehr als 30 Sekunden. Sie hatten die Erlaubnis, per Schleudersitz auszusteigen und so ihr Leben zu retten. Kapustin forderte seinen Navigator Janow unmittelbar vor dem Aufprall auf, den Auslöser zu betätigen, was aber nicht geschah. Es gilt als sicher, dass beide alles versuchten, um das Flugzeug auf unbewohntem Gebiet aufschlagen zu lassen.
Gegen 15.30 Uhr stürzte die Maschine in den See, der im britischen Sektor von Berlin lag. Die Dokumente, die von Kostka ausgewertet hat, erlauben eine Rekonstruktion der anschließenden Ereignisse.
Zunächst herrschte Unsicherheit, ob die Besatzung nicht vielleicht doch ausgestiegen war. Die sofort zum Absturzort geschickten Taucher der West-Berliner Polizei und Feuerwehr sollten sich dem Wrack nicht zu sehr nähern. Daher konnten sie nicht sicher erkennen, ob die beiden Sowjets in ihrem Cockpit saßen, zumal der Schlamm im Stößensee die Sicht extrem behinderte. Also suchte britische Militärpolizei die Umgebung noch am Mittwochabend mit Hubschraubern nach den Piloten ab.
Am Ufer warteten derweil Soldaten der Roten Armee. Die Sowjets hatten verlangt, dass ihre eigenen Taucher die Bergung vornehmen dürften. Die Briten lehnten unter Hinweis auf die Regeln der Viersektorenstadt kühl ab.
Erst als am folgenden Nachmittag mehrere Taucher der Royal Navy, eigens eingeflogen aus Portsmouth, das Wrack untersuchten, fanden sie die Leichen von Kapustin und Janow. Gegen 22.30 Uhr war ihre Bergung beendet; dreieinhalb Stunden später, mitten in der Nacht, wurden die sterblichen Überreste mit vollen militärischen Ehren am Stößensee sowjetischen Offizieren ausgehändigt.
Wichtige Innovationen der Roten Armee
"Damit war die humanitäre Seite dieser Operation beendet", sagt von Kostka – doch die nachrichtendienstliche Recherche lief weiter. Bereits unmittelbar nach dem Absturz hatten die Briten die Untersuchung des Flugzeugs geplant, obwohl sie noch gar nicht wussten, um welches sowjetische Baumuster es sich handelte: "Sie hätten jedes militärische Fahrzeug untersucht", bilanziert der Direktor des Alliiertenmuseums seine Studien.
Als die Navy-Taucher anhand des ersten Augenscheins feststellten, dass es sich um den erst im vorangegangenen Jahr eingeführten Abfangjäger Yak-28P handelte, war das ein ungeheurer Glücksfall. Denn die Maschine mit der besonders langen Rumpfspitze gehörte zu den wichtigsten Innovationen der Roten Armee und war dem Westen bis dato weitgehend unbekannt.
Besonders interessant war für die Briten erstens das Radargerät vom Typ Orjol-D – das seinerzeit stärkste Funkmessgerät der sowjetischen Luftwaffe. Zweitens interessierten sich die RAF-Techniker für die Hochleistungstriebwerke des Jets, auch wenn ihr Versagen zum Absturz geführt hatte.
Überrascht waren die Briten, dass sie ein offenbar intaktes sowjetisches Freund-Feind-Erkennungssystem fanden. Es verfügte zwar über eine eingebaute Selbstzerstörung, doch hatten Kapustin und Janow sie vor dem Aufschlag wohl nicht mehr auslösen können.
Eine Woche nach dem Absturz erhielten die Sowjets das Wrack zurück – ohne die ausgebauten Systeme und die Triebwerke. Erst am 18. April fanden die Taucher die erste Jetturbine; sie wurde heimlich geborgen, zum Flugplatz Berlin-Gatow gebracht und von eigens eingeflogenen Experten bis in Detail untersucht.
Eine weitere Woche später entdeckten die Taucher das zweite Triebwerk und teilten den Sowjets mit, jetzt sei das erste Triebwerk gefunden worden. Drei Tage später versenkte der Geheimdienst das inzwischen auseinandergenommene und genau dokumentierte Triebwerk wieder im See – am 2. Mai wurden beide Turbinen den Sowjets übergeben.
Die beschwerten sich bei der Übergabe, dass "ein wichtiges Teil", das nicht genauer bezeichnet wurde, noch fehle – offenbar die Freund-Feind-Kennung. Große Teile des Radarsystems bekamen die Sowjets ebenfalls nie zurück.
Vor einer politischen Krise
Das geheimdienstliche Kräftemessen am Stößensee hätte jedoch auch zu einer handfesten politischen Krise ausufern können. Am 7. April, dem Tag nach dem Absturz, rollte ein sowjetisches Amphibienfahrzeug über den Checkpoint Charlie zum Stößensee. Die jetzt erstmals ausgewerteten britischen Akten zeigen: Bei den Alliierten war man irritiert und unsicher, was man tun sollte, wenn das sowjetische Fahrzeug ins Wasser und zum Flugzeugwrack gefahren wäre. Denn das wäre wohl nur mit Gewalt zu verhindern gewesen.
"Im Nachhinein lässt sich sagen, dass die sowjetische Seite keine Berlin-Krise provozieren wollte, um die nachrichtendienstlichen Arbeiten der Briten an ihrem Flugzeug zu stören", urteilt von Kostka. Doch vor einem halben Jahrhundert war man sich auf westlicher Seite darüber nicht so sicher. An das selbstlose Opfer von Kapustin und Janow erinnert heute am Stößensee eine Gedenktafel.
Quelle : welt.de
Tags: