Merkel war in den vergangenen Monaten oft in der Türkei, um den Flüchtlingsdeal Europas mit dem Reich von Präsident Recep Tayyip Erdoğan auszuhandeln. Ein Besuch in Kilis stellt für die CDU-Politikerin nun eine Chance dar, für diesen Deal zu werben und Erdoğan aufzufordern, noch mehr zu tun. Denn in Kilis zeigt sich komprimiert die Lage der Flüchtlinge in der Türkei.
Unübersehbar ist in der einstigen Einhunderttausend-Einwohnerstadt, wozu das Land willens und fähig ist, wenn es darum geht, den Menschen aus Syrien zu helfen. Kilis liegt in der ärmsten der 81 türkischen Provinzen in unmittelbarer Nähe zur syrischen Grenze. Vom Zentrum der Stadt sind es kaum 70 Kilometer bis zur so lange umkämpften Metropole Aleppo. Auch angesichts dieser Nähe hat sich die Bevölkerungsgröße von Kilis seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 mehr als verdoppelt. Und trotzdem war das Chaos dort kaum größer als etwa in Griechenland oder Italien.
Das perfekte Camp
Es gelang dem türkischen Katastrophenschutz Afad in kürzester Zeit, gewaltige Flüchtlingslager aufzubauen. Lager, die viele, die sie besuchen durften, ins Staunen versetzten. Das Magazin der "New York Times" titelte im Frühjahr 2014: "Wie man das perfekte Flüchtlingscamp baut" und lieferte eine ausführliche Reportage über das schon damals 14.000 Menschen beherbergende Containercamp Oncupinar. In dem Artikel ist von tadelloser Versorgung mit Strom und Wasser die Rede. Die Schulen und Krankenstationen seien besser als vieles, was die Menschen aus ihrer früheren Heimat gewohnt seien.
Flüchtlinge bekamen dem Blatt zufolge schon 2014 elektronische Karten mit ihren Fingerabdrücken drauf, mit denen sie sich beim Betreten und Verlassen der Anlage ausweisen und mit denen sie in den Geschäften, die es auf der Anlage gibt, bezahlen können. Statt die Menschen umständlich mit Sachleistungen, die doch nie den individuellen Bedürfnissen der Menschen entsprechen, zu versorgen, füllte die Regierung die Karten mit monatlichen Guthaben auf. Die "New York Times" lieferte etliche solcher Beispiele für die Effizienz des Camps.
In der Nähe von Kilis ist in kürzester Zeit noch ein zweites riesiges Lager entstanden. Und die Anlagen werden stetig ausgebaut. Kürzlich machte die Meldung die Runde, dass mehr als 1000 zweistöckige Container hinzugekommen seien. Mittlerweile leben ungefähr 40.000 Flüchtlinge in Camps in der Region.
Bilder mit Merkel in einer dieser Containerstädte hätten sicher größere Wirkung als die abstrakte Beteuerung der Bundesregierung, dass die Türkei ja Gewaltiges leiste mit der Versorgung von insgesamt 2,7 Millionen Flüchtlingen.
Neue Schulen und Krankenhäuser
Auch in der Stadt Kilis ist die Atmosphäre bemerkenswert. Staatschef Erdoğan hat sehr früh deutlich gemacht, welchen Umgang er sich mit den Flüchtlingen wünscht. Er hieß die "Gäste", die er auch als "Brüder" bezeichnete, willkommen. Und viele Bewohner der Stadt folgten dieser Linie ohne Wenn und Aber. Natürlich ertönen mit zusehends steigenden Flüchtlingszahlen kritische Töne aus der Bevölkerung, doch angezündete Bauten wie in Nauen oder Mob-Szenen wie in Heidenau gibt es in diesem Maße in Kilis schlicht nicht.
Trotz der vorbildlichen Flüchtlingslager und der großen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung zeigen sich in Kilis viele Probleme. Denn wie im Rest der Türkei lebt der Großteil der Flüchtlinge nicht in den Lagern. Zum einen, weil diese noch immer nicht groß genug sind. Zum anderen, weil ein Leben selbst in einem perfekten Camp nur eine Übergangslösung sein kann. Die Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Dasein sind dort nun mal beschränkt.
Gouverneur Süleyman Tapsiz sprach noch Ende des vergangenen Jahres im Interview mit n-tv.de über bettelnde Kinder auf den Straßen und zu wenige Schulen. "Wir würden uns wünschen, dass europäische Länder und internationale Hilfsorganisationen hier neue Schulen bauen. Wir haben auch nicht genug Wohnraum. Wir sehen uns gezwungen, Menschen in andere Regionen umzusiedeln", so Tapsiz damals.
Doch auch darin liegt eine Chance, für den Deal mit der Türkei zu werben. Türkische Medien berichteten vor dem erwarteten Besuch der Kanzlerin, dass diese zusammen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu eine Schule und ein Krankenhaus eröffnen werde. Dabei handelt es sich um einige der ersten Projekte, die mit den sechs Milliarden Euro, die Europa der Türkei im Rahmen ihres Abkommens versprochen hat, finanziert wurden. Angesichts unzähliger illegaler Geschäfte, die Syrer in Kilis gegründet haben, könnte Merkel dort zudem den Druck erhöhen, Flüchtlingen wirklich Zugang zum Arbeitsmarkt zu geben.
Kurzum: Bei einem Besuch dürfte der Eindruck entstehen, dass Merkel vor Ort prüft, dass die Türkei sich wirklich darum bemüht, Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben im Land zu ermöglichen. Das ist die moralische Grundvoraussetzung dafür, dass Europa die Menschen, die über das Mittelmeer kommen, wieder dorthin zurückschicken kann.
Auf der anderen Seite der Grenze liegt das Elend
Ein Besuch stellt allerdings auch ein Risiko dar. Denn vor einer traurigen Realität könnte Merkel ihre Augen kaum verschließen. In der Region wird vielen Flüchtlingen geholfen, ja. Doch von bemüht oder gar vorbildlich kann keine Rede mehr sein, wenn der Blick ein bisschen weiter schweift - nach Azaz oder Bab al-Salama auf der syrischen Seite der Grenze.
Kurz vor der Waffenruhe in Syrien flohen etliche Menschen vor den Kämpfen in der Region Aleppo. Medienberichten zufolge stauten sich rund 60.000 Vertriebene in Azaz und Bab al-Salama und warteten vergeblich auf die Einreise in die Türkei. Rein kamen nur Schwerstverletzte. Ankara preist zwar immer wieder eine Politik der "offenen Grenzen", doch davon kann keine Rede sein.
Die türkische Regierung versucht sich damit zu rechtfertigen, dass die Katastrophenschutzbehörde Afad auch auf syrischer Seite der Grenze Lager betreibt. Menschen, die aus ihnen kommen, beschreiben den Zustand aber schlicht als erbärmlich. Und Bilder von Zelten, die im Matsch versinken, von Kindern ohne Dach über dem Kopf bestätigen diese Berichte. Ein Leiter des Flüchtlingslagers Bab al-Salama sagte kurz vor dem Beginn der Waffenruhe der "Welt": "Die Türkei sagt zwar, sie tue genug, aber die Realität ist eine andere."
Alarmierend sind solche Berichte, weil es das erklärte Ziel der türkischen Regierung ist, in Syrien sogenannte Schutzzonen zu schaffen - Areale, in denen Bürgerkriegsflüchtlinge auf heimischen Boden leben können. Erdoğan hat längst damit begonnen, dieses Konzept umzusetzen. Die Kanzlerin kann in Kilis für ihren Deal mit der Türkei werben. Aber will sie moralisch glaubwürdig bleiben, darf sie sich nicht damit zufriedengeben, dass es den Flüchtlingen auf türkischer Seite gut geht.
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