Automobile Superlative für den Stammtisch beginnen sich langsam in Richtung Absurdität zu verschieben: 900 PS (Lotus Eletre R), 1020 PS (Tesla Model S Plaid) oder 1026 PS (Lucid Air Dream Edition) - wohin soll die Leistungsinflation eigentlich noch führen? Und vor allem stellt sich die Frage - emotionalisieren solche Monsterleistungen elektrisch angetriebene Fahrzeuge? Mit dem Mercedes-AMG EQE 53 wird sich die Antwort darauf nur bedingt finden lassen, weil er gegen die aktuell real verfügbare elektrische Leistungsspitze wahrlich alt aussieht. Hier muss der geneigte Interessant nämlich mental verkraften, dass es maximal "nur" 687 PS gibt. Und dann heißt die Maschine schon aufregend "EQE 53 4Matic+" mit dem Zusatz "Dynamik Plus", der ganz nebenbei die Kleinigkeit von 4760 Euro extra kostet.
Gut, das sind allerdings auch schon Sphären jenseits von Gut und Böse - in Verbrennerwährung gedacht ohnehin. Aber nachdenklich wird man erst im Kontext mit der EQE-AMG-Optik. Wo bleibt die baggernde AMG-Front mit den übergroßen Lufteinlässen? Dicke Seitenschweller sucht der Betrachter außerdem vergebens, und der lautlose Affalterbacher kommt auch nicht extrabreit daher, als sei er auf Steroiden. Bloß der Heckdiffusor zeigt, dass es auch zügiger vorangehen kann. Allein, ihn tragen auch die zivilen EQE-Modelle. Gibt es wirklich kein Unterscheidungsmerkmal, das den AMG abhebt? Na ja, schon - die Abrisskante auf dem Heckdeckel fällt einen Zacken größer aus als die der schwächeren Modelle. Das ist es.
Nach der ersten zurückhaltenden Runde mit der durchaus eleganten Limousine stelle ich selbige ab und schließe zu. "Wruum" ertönt aus dem Außenlautsprecher, alles klar. Wie banal. Und doch hat mich der AMG jetzt geknackt! "Warum machen die Jungs und Mädels in den Affalterbacher Büros das?", denke ich so bei mir. Dieses kleine Sound-Detail triggert ungemein, rüttelt den Auto-Enthusiasmus irgendwie wach.
Der EQE 53 bringt Fabel-Beschleunigungswerte
Im Gegensatz zu diesem markanten Abschiedsgrummeln bleibt der auf Wunsch verfügbare synthetische Motorsound allerdings ausgeschaltet. Die Hommage an die scharfen Verbrenner-AMG lasse ich mir gefallen, finde sogar Gefallen daran. Doch ein elektrisch angetriebenes Fahrzeug soll keine künstlichen Töne spucken. Jetzt will ich aber wissen, was der Power-EQE kann, lasse den Allrad-Wagen bei der zweiten Probefahrt performen. Ohne viel Brimborium zischt der in Sodalithblau-Metallic lackierte Benz weg, lässt die Passagiere mit kurzem Schwindelgefühl zurück. Wozu also tausend Pferde? Bereits 687 PS reichen vollkommen, um gestandene Sportwagen in ihre Schranken zu weisen und selbstverständlich ebenfalls, um am Stammtisch oder in einer digitalen Community zu glänzen. In der persönlichen Konversation wäre an dieser Stelle ein Augenzwinkern angebracht.
Der Output reicht für einen Standard-Sprint von 3,3 Sekunden im sogenannten Race-Start. Heißt, so schnell hechtet der Dreiundfünfziger dann aus dem Stand auf 100 Kilometer pro Stunde. Allerdings nur, wenn Akkuladestand (mindestens 70 Prozent) und Temperatur passen. Denn wichtig zu wissen ist: Ausufernde Leistungswerte sind beim batterieelektrischen Auto zwar schnell ins Datenblatt geschrieben. Von Dauer jedoch sind solche Peak-Werte mitnichten, wie das bei Verbrennungsmotoren der Fall ist. Sie sind stattdessen nur kurzzeitig im Boost abrufbar.
Wie belastbar sind die schwindelerregenden Fahrleistungen eines EQE 53 also zu reproduzieren? Das müssen Fachblätter feststellen. Allerdings stößt der elektrische Athlet im Alltag kaum an seine Grenzen. Selbst hohe Tempobereiche, in die man auf langen, verkehrsarmen Autobahngeraden vorstoßen kann, erklimmt die virtuelle Tachonadel auf dem Hyperscreen mit Verve. Zwar lässt AMG seinen Öko-Sportler nicht ganz so fix rennen wie die hochkarätigen Verbrenner - allerdings sind beim Topmodell immerhin 240 Kilometer pro Stunde drin. Das geht schon in Ordnung.
Atemberaubend ist außerdem, wie flink der 2,5-Tonner kurvige Strecken querdynamisch bezwingt. Hier helfen freilich Gadgets wie adaptive Luftfedern sowie die Hinterachslenkung. Dinge, die im üppigen Grundpreis von 115.465 Euro freundlicherweise enthalten sind. Bleibt das Geheimnis, wie man 1000 Newtonmeter Drehmoment ohne Traktionsprobleme auf den Asphalt bringt. Die Kombination aus 295er-Walzen auf der hinteren Achse plus variabler Allradantrieb könnten es lüften. Zumal die Lösung mit jeweils einer permanenterregten Synchronmaschine pro Achse in puncto Reaktionsfähigkeit wohl jedem noch so eiligen Sperrdifferenzial überlegen sein dürfte.
Platzangebot ist über alle Zweifel erhaben
Doch um den derzeit stärksten EQE zu verstehen, bedarf es einer smarteren Analyse als lediglich die reinen Performance-Daten zu betrachten. Gibt der Schwabe den Allrounder mit der Fertigkeit, tendenziell auch lange Strecken abzuspulen? Die ergonomisch ausgeprägten Fauteuils des Testwagens lassen daran jedenfalls keinen Zweifel, zumal die Sitze klimatisierbar und damit besonders komfortabel sind. Auch am Raum scheitert es nicht, was wohl auf das spezielle Package elektrisch angetriebener Vehikel zurückzuführen ist. Bei einer gemäß der Kategorie üblichen Außenlänge von 4,95 Metern kommt der EQE auf ziemlich verrückte 3,12 Meter Radstand. Noch Fragen? Über Knie- und Kopffreiheit im Fond wird man wohl kaum diskutieren müssen. Zudem überrollt der Mercedes trotz Pneus mit extremen Niederquerschnitten (30er-Serie) Bodenwellen recht geschmeidig.
Aber dafür gibt es einen artspezifischen Komplex, über den man sehr wohl zu diskutieren hat. Denn bekanntermaßen lassen sich heute üblicherweise bei elektrischen Antrieben zum Einsatz kommende Lithium-Ionen-Akkus nicht so schnell mit Energie befüllen wie schnöde Behältnisse von Flüssigkraftstoffen. Und man muss sagen, liebe Mercedes-Ingenieure, hier bleibt eure Kompetenz ein bisschen hinter den Erwartungen zurück. So lange ist die Baureihe V295 auch noch nicht am Markt, als dass 170 Kilowatt Peak-Ladeleistung bei Erscheinen des Modells als State of the Art hätte gewertet werden können.
Wohl wissend um die Tatsache, dass die Ladegeschwindigkeit stark von äußeren Faktoren wie Ladesäule, lokalem Stromnetz und Temperatur abhängt, hat ntv.de dennoch verschiedene Tests an 150 respektive 300 Kilowatt starken Ladestationen durchgeführt, um dem potenziellen Kunden vor Augen zu führen, was auf ihn zukommt. Die größte Ladeperformance erzielt man, indem man den Ladevorgang bei niedrigen Batteriefüllständen startet. Der EQE 53 hat im Testbetrieb binnen 20 Minuten zwischen 134 und 203 Kilometern Reichweite nachgefasst. Fahrzeuge von Hyundai oder Kia mit 800-Volt-System schaffen in der gleichen Zeit deutlich über 300 Kilometer.
Natürlich dürfte Mercedes längst an dieser Thematik arbeiten, was aktuellen EQE-Kunden aber nicht hilft. Immerhin lässt sich in der rund 91 kWh großen Batterie so viel Strom speichern, dass man mit einem gemittelten WLTP-Verbrauch von 20,3 bis 22,9 kWh je 100 Kilometer bis zu 504 Kilometer weit kommt. Nur erfordert das moderate Fahren mit dem Hochperformer verdammt viel Disziplin. Darf man mit einem elektrisch angetriebenen Auto reuelos Strom verballern? Solange hierzulande noch Kohlekraftwerke elektrische Energie erzeugen, wird jedenfalls noch jede Menge an CO2 in die Luft gepustet.
Hyperscreen lässt sich intuitiv bedienen
Was bleibt als automobiles Seelenfutter? Natürlich der immer wieder aufs Neue fancy erscheinende Hyperscreen (reicht über die ganze Armaturentafel und kostet 8568 Euro Aufpreis) mit kleinen Gimmicks zur Befriedigung des Erwachsenenspieltriebs. Dazu gehören beispielsweise verschiedene Zierbilder auf der Beifahrerseite, falls der Fahrgast auf der linken Seite nicht gerade nach Herzenslust herumtouchen möchte. Ich entscheide mich schlicht für den AMG-Schriftzug (Mercedes-Sternchen sowie Kompass stehen unter anderem ebenso zur Auswahl). Die Bedienung erfolgt übrigens recht intuitiv, weil Mercedes die wichtigsten Funktionen in einem kompakten Menü bündelt. Das lässt sich auf dem Hauptdisplay in der Mitte einfach durch kurzes Herunterziehen aufrufen. Hier lässt sich dann auch die eher nervige Spurvibration deaktivieren. Beabsichtigt man die volle Funktionsfülle auszuschöpfen, können schon mal ein paar Erkundungsstunden draufgehen.
Und falls einer der vielen Mercedes-Produktmanager diesen Text lesen sollte: Bitte legt den Tempomat wieder auf einen separaten Lenksäulenhebel - ist einfach besser zu bedienen als die glatten Funktionsflächen auf der doppelten Lenkradspeiche. Deren Reaktionsfähigkeit lässt generell zu wünschen übrig. Gleiches gilt für die Tasten der Sitzverstellung. Hier wünscht man sich die ältere Lösung zurück, die über einen exakten Druckpunkt bessere Rückmeldung gibt. Diese Aufgaben sollten vorrangig gelöst werden, bevor der nächste Leistungs-Superlativ verkündet wird.
Fazit: Der Mercedes-AMG EQE 53 4Matic+ fasziniert durch schlichte Unaufdringlichkeit - jedenfalls für ein AMG-Modell. Der bärenstarke Tourer gibt den Wolf im Schafspelz, da er auf Fahrpedalbefehl deutlich böser zu Werke geht, als seine Optik vermuten lässt. Geschmeidiger Fahrkomfort und jede Menge Platz lassen ihn zum feinen Allrounder avancieren. Ist das emotional? Aber sowas von! Sein Schwachpunkt ist ganz klar die maue Ladeperformance. Hier sollte Mercedes nachbessern. Der Grundpreis ist freilich stramm, allerdings profitieren Dienstwagenfahrer von der Steuergesetzgebung, die elektrisch angetriebene Autos bevorzugt. So gilt lediglich der halbierte Bruttolistenpreis als Grundlage für die pauschale Versteuerung privater Fahrten. Ein günstiges Vergnügen ist der stärkste AMG-EQE indes dennoch nicht. Ein spaßiges dagegen schon. Und ein emotionales sowieso.
Quelle: ntv.de
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