Eine Million Arten stehen vor der Auslöschung

  23 Januar 2024    Gelesen: 1021
  Eine Million Arten stehen vor der Auslöschung

Der Klimawandel ist eine der größten Bedrohungen für die Erde. Viele Expertinnen und Experten sehen im menschengemachten Artensterben mittlerweile ein ähnlich großes Problem. Denn mit den Spezies schwinden auch die Menschen. Was können Politik und Bürger dagegen tun?

"Wir befinden uns im größten Aussterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit", sagt Arnulf Köhncke, Fachbereichsleiter Artenschutz beim World Wildlife Fund (WWF) Deutschland. "Rund eine Million Arten sind bedroht." Mehr Arten als je zuvor seien gefährdet: ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibien sind laut WWF bedroht. An Beispielen mangelt es nicht, bei Säugetieren betroffen sind etwa Arten von Walen, Delfinen, Haien, Wölfen, Bären, Tigern, Nashörnern und Affen.

Laut dem Naturschutzbund (NABU) hat die Biomasse an wilden Säugetieren - also sämtliche organische Substanz solcher Säuger auf der Erde - seit 1970 um 82 Prozent abgenommen. "Aktuell machen sie nur noch 4 Prozent der Biomasse an Säugetieren insgesamt aus, während die restlichen 96 Prozent aus Nutztieren (62 Prozent) und Menschen (34 Prozent) bestehen", erläutert NABU-Experte Arne Loth.

Laut einem Ende 2022 veröffentlichten WWF-Bericht hat die Menschheit seit 1970 etwa 69 Prozent aller beobachteten Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien vernichtet. Geografischer Hotspot sei Süd- und Zentralamerika, wo die untersuchten Tierbestände mit durchschnittlich 94 Prozent besonders stark geschrumpft seien. Prognosen zufolge könnten aufgrund der durch den Klimawandel steigenden Temperaturen bis 2050 etwa 90 Prozent der Korallen aussterben. Und erst kürzlich schätzte ein Forschungsteam im Fachblatt "Science", dass 35 bis 43 Prozent aller Baumarten weltweit bedroht sind - darunter 20.000 bis 25.000 Spezies in den Tropen.

Hälfte aller Wildbienen gefährdet

Auch in Deutschland ist das Artensterben Gegenwart: In den vergangenen 27 Jahren sind laut NABU hierzulande 75 Prozent aller Insekten (Biomasse) verschwunden. 9000 der über 71.500 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten sind demnach gefährdet. "Ein besonders dramatisches Beispiel: 50 Prozent der in Deutschland vorkommenden Wildbienen stehen auf der Roten Liste", betont Loth.

Das sei besonders fatal, schließlich bestäubten Bienen etwa ein Drittel aller landwirtschaftlichen Nutzpflanzen. Damit spielen sie laut NABU "eine zentrale Rolle im Erhalt unserer Kultur- und Landwirtschaft". Zudem seien in Deutschland seit 1980 mehr als die Hälfte der Feldvögel - wie beispielsweise Feldlerche, Kiebitz, Rebhuhn oder Wachtel - verschwunden.

"Intakte, artenreiche Ökosysteme bilden in ihrer Vielfalt die Grundlage für unser Überleben, unsere Gesundheit und unseren Wohlstand", erklärt Loth. Sie reinigten Luft und Wasser, lieferten Arzneien und böten Erholungsraum, erläutert er. Ihr Verlust etwa durch geringere Ernteerträge gefährde nicht nur die Lebensmittelversorgung, sondern auch Wirtschaft und Gesundheit.

Die Ursache ist für den WWF klar: "Grund für diese Artenkrise sind wir Menschen, die vor allem durch Lebensraumzerstörung und Übernutzung das Artensterben vorantreiben." Lebensraumzerstörung meint etwa die sich ausdehnende Landwirtschaft sowie Berg- und Städtebau. Hinzu kämen Umweltverschmutzung und die Übernutzung der natürlichen Ressourcen durch Überfischung und Wilderei.

Auch der NABU sieht den Menschen in der Verantwortung: Die natürliche Rate des Artensterbens werde durch menschliche Aktivitäten aktuell schätzungsweise um einen Faktor zwischen 1000 und 10.000 beschleunigt, sagt Loth. Nach NABU-Angaben ist der Mensch schon jetzt "für die unwiederbringliche Ausrottung zahlreicher Tier- und Pflanzenarten verantwortlich". Vollständig ausgerottet wurden demzufolge etwa zahllose Arten von Zebras, Wölfen, Seekühen, Kaninchen, Vögeln, Fischen, Reptilien, Insekten oder Schildkröten.

"Klimawandel löst Kettenreaktion aus"

Zum Artensterben trägt auch der menschengemachte Klimawandel bei. Ein WWF-Bericht kommt zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der Tier- und Pflanzenarten aus den weltweit bedeutendsten Naturregionen verschwinden wird, wenn die Welt weiterhin so viel Treibhausgas ausstößt wie derzeit. "Der Klimawandel löst eine Kettenreaktion aus - mit unkalkulierbaren Folgen für die Tier- und Pflanzenwelt, aber auch für den Menschen", heißt es.

Zudem führe "der Konsum von und der Handel mit bestimmten Tier- und Pflanzenarten dazu, dass viele Arten vom Aussterben bedroht sind", erklärt NABU-Experte Loth. Die Verschmutzung der Umwelt sei eine weitere Ursache, besonders problematisch seien Nährstoffeinträge und Pestizide - vor allem aus der Landwirtschaft - sowie Plastikmüll in marinen Lebensräumen.

Ein weiterer Treiber sind NABU und WWF zufolge invasive Arten, die durch den Menschen in fremde Regionen transportiert werden. Diese biologischen Invasionen hätten schon zurzeit erhebliche Auswirkungen auf Tiere, Natur und Mensch und zu 60 Prozent der weltweit nachgewiesenen Aussterbe-Ereignisse beigetragen, sagt WWF-Experte Köhncke. Im Jahr 2019 habe das zu Kosten von weltweit 400 Milliarden Dollar geführt.

Wie lässt sich das rapide Artensterben aufhalten?

"Es müssen schnellstens Lösungen auf Regierungsebene her", fordert Köhncke. "Zentrale Ansätze hierfür sind effektiveres Management für Invasions-Prävention und -Kontrolle." Über 80 Prozent der Staaten hätten keine solchen Gesetze. "Die wichtigste Strategie gegen invasive Arten ist und bleibt die Vorbeugung, zum Beispiel durch Transportwege-Management und Einfuhrkontrollen", erklärt der WWF-Experte.

NABU-Experte Loth verweist auf das 2022 in Montreal unterzeichnete sogenannte Weltnaturabkommen, für das sich unter anderem Deutschland besonders starkgemacht habe. Dessen Ziele müssten nun von allen Ländern umgesetzt und in konkrete Schritte heruntergebrochen werden. "In Deutschland kann die Bundesregierung durch ein ambitioniertes Natur-Flächen-Gesetz einen starken Rechtsrahmen dafür setzen, dass Schutzgebiete auf 30 Prozent der Land- und Meeresflächen ausgeweitet werden und unter wirksamem Schutz stehen", fordert Loth.

Massensterben betrifft auch die Menschen

Schutz allein reiche aber nicht, so Loth. Da bereits 80 Prozent der natürlichen Lebensräume in Europa geschädigt seien, müsse die Regierung die Rahmenbedingungen dafür setzen, dass diese Ökosysteme wiederbelebt oder renaturiert würden. Es brauche einen Plan zur Wiederherstellung von Meeren, Mooren, Wäldern, Flüssen und Auen. Zudem müsse man landwirtschaftliche Flächen naturnaher gestalten und den Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln reduzieren.

Und auch Bürgerinnen und Bürger könnten ihren Teil beitragen: Loth zufolge könne man das Thema häufiger ansprechen und somit in der Gesellschaft verbreiten, den oder die Abgeordnete des eigenen Wahlkreises anschreiben, sich in Parteien oder Verbänden engagieren oder selbst beim Naturschutz vor Ort helfen - etwa bei der Renaturierung eines Dorfteiches. Außerdem könne man im eigenen Garten, auf dem Balkon oder im Nachbarschaftsprojekt durch vielfältige, heimische Pflanzenarten Nahrung für Insekten und Vögel schaffen.

Auch bewusster Konsum von ressourcenschonenden und klimafreundlichen Produkten könne einen Beitrag leisten. "Die Formel ist einfach: regionale, saisonale, ökologische und faire Produktion und wenig, recycelte oder sogar gar keine Verpackung." Vor Einkäufen könne man sich die Frage stellen, ob ein Produkt wirklich nötig sei, und falls ja, ob man es nicht auch gebraucht kaufen könne.

Laut NABU gab es bisher fünf große Massensterben auf der Erde - das bislang letzte vor über 65 Millionen Jahren, als unter anderem die Dinosaurier verschwanden. Ursache damals war wohl der Einschlag eines großen Asteroiden. Heute sei der Mensch die Ursache. Die bisherigen Massensterben hätten eine Gemeinsamkeit gehabt: Die Arten an der Spitze der Nahrungskette starben zuerst. Zwar werde die Evolution über Millionen von Jahren dafür sorgen, dass sich die Natur wieder erholt, sagt Loth. Aber: "Die Natur wird das Massensterben überleben, wir Menschen hingegen nicht."

Quelle: ntv.de, Marco Rauch, dpa


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