Warum der IS-Terror zurück in Europa ist

  08 September 2024    Gelesen: 710
  Warum der IS-Terror zurück in Europa ist

2019 war der Islamische Staat militärisch besiegt. Doch die Terrororganisation hat sich dank ihres afghanischen Ablegers "berappelt" und ihre Taktik neu ausgerichtet. Experten sehen darin womöglich den Beginn einer neuen Anschlagswelle in Europa.

Der Vermummte im Video hält ein Messer in die Kamera und schwört dem Anführer der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) ewige Treue. Er erklärt, die Menschen in Palästina rächen zu wollen und bittet seine Eltern um Vergebung. In der nächsten Sequenz steht er auf einer Straße in Solingen, das Gesicht diesmal nachträglich unkenntlich gemacht, und kündigt an, gleich Menschen töten zu wollen.

Das Video erscheint zwei Tage nach dem Terroranschlag in Solingen mit drei Toten über die Propagandakanäle des IS. Experten gehen davon aus, dass es sich bei dem Mann im Video tatsächlich um den Attentäter Issa H. handelt. Er kam im Dezember 2022 als Geflüchteter aus Syrien nach Deutschland, wann und wie er sich radikalisiert hat, ist unklar.

Behörden und Experten warnen seit Monaten von einer erhöhten Terrorgefahr durch den IS. Dabei war die Terrorgruppe, die zwischenzeitlich weite Teile des Iraks und Syriens kontrollierte, durch das Eingreifen einer internationalen Koalition 2019 militärisch besiegt worden. Seither ging die Zahl der Anschläge, die die Organisation für sich beansprucht, Jahr für Jahr zurück. Laut einer Statistik der BBC waren es 2023 nur noch ein Viertel so viel Anschläge wie noch 2018.

Kalifat im Nahen Osten

Der IS ging aus der Terrororganisation al-Quaida hervor. Im syrischen Bürgerkrieg eroberte die Gruppe große Gebiete in Syrien und im Irak und rief 2014 ein Kalifat aus. Dabei verübten die Terroristen unzählige Gräueltaten. Videos von Enthauptungen vor der schwarzen IS-Fahne gingen um die Welt. Es kam zu grausamen Massakern, etwa an den Jesiden.

Zum ersten Mal habe es damals eine dschihadistische Organisation mit globaler Reichweite gegeben, die in der Lage war, Kämpfer aus allen Ecken der Welt anzuziehen, sagte Guillaume Soto-Mayor vom Middle East Institut in Washington der Tagesschau. "Und, die eine territoriale Kontrolle über die Finanzstruktur und Verwaltung hatte und damit eine Reihe von militärischen Aktionen durchführen konnte. Zudem konnte der IS einen sehr gut entwickelten internationalen Kommunikationsapparat einsetzen", so der Terrorismus-Experte.

In dieser Zeit verbreitete der IS auch außerhalb des Nahen Ostens Angst und Schrecken. Anschläge wie im Bataclan in Paris 2015 oder am Berliner Breitscheidplatz 2016 ließen den internationalen Terrorismus als größte Bedrohung des Westens erscheinen. Doch der Terror provozierte eine Gegenreaktion. Durch eine von den USA angeführte Militäroffensive konnten die vom IS kontrollierten Gebiete zurückerobert werden. Infolgedessen schwand auch die Terrorgefahr im Westen.

Expansion nach Afrika und Asien

In Teilen Syriens behielt der Gruppe durch Sympathisanten und Schläferzellen einen gewissen Einfluss, zudem expandierte sie in andere Weltregionen. Im subsaharischen Afrika oder Südasien baute der IS Zweigstellen auf, deren Aktivitäten sich jedoch größtenteils auf die jeweiligen Regionen beschränken. "Da der Islamische Staat nun eher als ein afrikanisches und südasiatisches Problem wahrgenommen wird, ist der Kampf gegen die Gruppe auf der Agenda der internationalen Gemeinschaft deutlich zurückgegangen", schreibt der Terrorismus-Experte Colon P. Clarke in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Rundschau".

Eine Ausnahme bildet laut dem Global Network on Extremism & Technology der afghanische Ableger Islamischer Staat in der Provinz Khorasan (ISKP). Dieser sei zunehmend fähig und willens, Anschläge im Ausland zu verüben. "Khorasan" bezeichnet ein historisches Gebiet in Zentralasien, das auch Teile des Irans und Gebiete in den Ex-Sowjetrepubliken Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan umfasst.

Der ISKP setzt sich unter anderem aus ehemaligen Taliban-Kämpfern zusammen und ist seit rund zehn Jahren in der Region aktiv. Die westliche Militärpräsenz in Afghanistan hegte die Aktivitäten aber zunächst ein. Mit der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der westlichen Truppen konnten die Dschihadisten ihren Einfluss in Teilen Afghanistans ausbauen. Mit den Taliban ist der ISKP verfeindet, seit 2021 sind die Terroristen für Hunderte Anschläge in Afghanistan verantwortlich.

Zur internationalen Agitation greift der ISKP auf den IS-Propagandaapparat zurück und baut diesen sogar aus. Experten des Global Network on Extremism & Technology sprechen in diesem Zusammenhang von einem "Medien-Dschihad". Die Terroristen betreiben eigene Newsletter und Zeitschriften, sind in den sozialen Medien aktiv und pflegen enge Kontakte zu IS-nahen Propagandasendern. Demnach sind 16 Übersetzungsgruppen im Einsatz, damit die Botschaften der Terroristen ein breites Publikum erreichen. So sollen Anhänger weltweit zu Gewalttaten angestachelt werden.

Akute Terrorgefahr durch ISKP

Dass der ISKP fähig ist, groß angelegte Terroranschläge im Ausland zu begehen, hat er in diesem Jahr unter Beweis gestellt. Im Januar reklamierte die Organisation einen Bombenanschlag im Iran mit fast hundert Toten für sich. Im März töteten Attentäter 145 Besucher eines Konzerts in Moskau. Daraufhin sprach Bundesinnenministerin Nancy Faeser von einer "akuten" Terrorgefahr in Deutschland. Vom ISKP gehe die derzeit größte islamistische Bedrohung überhaupt aus.

Laut dem Global Network on Extremism & Technology rekrutiert der ISKP Kämpfer in Zentralasien und schickt diese dann nach Europa. Nordrhein-Westfalen nahm die Polizei im Juli vergangenen Jahres sieben mutmaßliche Mitglieder einer Terrorzelle mit Kontakten zum ISKP fest. Die Tatverdächtigen stammten aus Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan. Ein weiterer Tadschike soll zudem einen Anschlag auf den Kölner Dom zur Weihnachtszeit geplant haben.

Anders als zur Hochzeit des IS Mitte der 2010er-Jahre setzt der ISKP allerdings vermehrt auf das Prinzip des Einzeltäters. "Der Verlust von Territorium in Syrien und im Irak bedeutet, dass sie sich im Moment auf kleine Strukturen verlassen müssen", sagte Experte Soto-Mayor. "Sie müssen also jetzt eher auf spontane Angriffe von Leuten setzen, die sehr oft psychische Probleme haben. Die dann Messerangriffe oder ähnliche Taten verüben." Nach dem Moskauer Anschlag richtete sich IS-Sprecher Abu Hudhaifah al-Ansari direkt an "einsame Wölfe", um "Kreuzfahrer (Christen) und Juden überall anzugreifen und ins Visier zu nehmen". Als "einsame Wölfe" werden Terroristen bezeichnet, die ihre Anschläge im Alleingang planen.

7. Oktober ein "Motivationsschub"

Ein "riesiger Motivationsschub für Terroristen" sei zudem der 7. Oktober gewesen, sagt der Terrorismus-Experte Peter R. Neumann vom King's College in London zu "t-online". Seit jeher versucht der IS die Erzählung verbreiten, "Ungläubige" führten einen globalen Krieg gegen Muslime. Die westliche Unterstützung für Israel im Gaza-Krieg passe in dieses Narrativ, das Neumann zufolge insbesondere unter muslimischen Jugendlichen Anklang findet. "Zwei Drittel der Terrorverdächtigen, die seit Oktober 2023 in Westeuropa festgenommen wurden, sind Teenager. Vor zehn Jahren war das noch völlig anders. Meine Erklärung ist, dass sich viele Jugendlichen fast ausschließlich über die sozialen Medien radikalisieren. Es braucht keine radikale Moschee mehr", so Neumann.

In Europa kam es bereits zu Terrortaten, die nahelegen, dass diese Strategie aufzugehen scheint. Im März stach ein 15-Jähriger in Zürich einen orthodoxen Juden nieder. In einem Video bekannte er sich zum IS und erklärte, möglichst viele Juden töten zu wollen. Im November 2023 erstach ein 26-Jähriger einen deutschen Touristen in Paris. Seine Tat sei ein Racheakt für getötete Muslime. Wie auch beim Attentäter von Solingen ist unklar, wie die Täter sich radikalisierten und ob es vorher überhaupt einen direkten Draht zum IS gab. Der 18-Jährige, dessen Anschlag am Donnerstag in München vereitelt wurde, hat sich ersten Erkenntnissen zufolge wohl im Internet radikalisiert.

Dem Sicherheitsexperten Neumann zufolge lassen sich Attentate von Alleingängern nur schwer verhindern. Er sieht in dieser Entwicklung möglicherweise den Beginn einer neuen Welle des Terrorismus in Europa: "Man hatte geglaubt, der IS sei besiegt. Aber er hat sich wieder berappelt. Jetzt sehen wir: Die Einschläge kommen häufiger und näher. Der Dschihadismus ist wieder die größte Terrorgefahr Westeuropas."

Quelle: ntv.de


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