Duerson war jahrelang American-Football-Profi, hatte für große Teams wie die Chicago Bears und die New York Giants gespielt, bis Anfang der 1990er-Jahre. Dann betrieb er Fast-Food-Restaurants, versuchte sich als Unternehmer. Immer wieder litt er unter psychischen Problemen.
Für ihn war klar, dass das etwas mit den ständigen Kollisionen und Stürzen in seiner Zeit als Profisportler zu tun hatte. Im Februar 2011 nahm sich Dave Duerson in seinem Haus in Florida das Leben. Mit einem Schuss in das Herz, nicht in den Kopf. Der Kopf sollte untersucht werden nach seinem Tod. In der SMS an seine Familie bat Duerson um eine Obduktion seines Gehirns.
Kinder bis elf dürfen beim Fußball nicht mehr köpfen
Die Geschichte von Duerson ist vor Kurzem in die Kinos gekommen. "Concussion" heißt der Film im Original – Gehirnerschütterung. Mit dem Film, der deutsche Titel ist "Erschütternde Wahrheit", ist die Debatte um eine oft gefährlich bagatellisierte Krankheit neu entbrannt. Und um die Stöße und Schläge auf die Köpfe von Profi- und Hobbysportlern. Der Fußballverband der USA hat Kindern, die jünger als elf sind, im November das Kopfballspiel komplett untersagt. Kinder zwischen elf und 13 dürfen nur im Training köpfen. Auch in Deutschland diskutieren Verbände, wie Sportler besser geschützt werden können.
120.000 Gehirnerschütterungen werden jährlich in deutschen Krankenhäusern behandelt, hinzu kommen Tausende, die nur vom Hausarzt oder überhaupt nicht medizinisch begutachtet werden. Etwa jede zehnte Verletzung in Kontaktsportarten wie Fußball, Handball, Eishockey oder Boxen ist eine Gehirnerschütterung.
Dave Duerson hatte recht. Ein Ärzteteam um Ann McKee von der Boston University untersuchte das Gehirn des Spielers nach dessen Suizid und fand unzweifelhafte Belege dafür, dass Duerson an einer Chronischen Traumatischen Enzephalopathie gelitten hatte. Das ist eine degenerative Hirnerkrankung, die man bis dahin nur von Boxern kannte und zu deren Symptomen auch die Depression gehört. Duerson ist nicht der einzige American-Football-Spieler, der sich in den USA nach einer Depression das Leben genommen hat.
Der Arzt attestierte "atemberaubende Fahrlässigkeit"
Neben Depressionen gehören Gedächtnisschwäche, Aufmerksamkeitsstörungen und epileptische Anfälle zu typischen Langzeitfolgen einer Gehirnerschütterung. Dafür muss man keinen besonders schweren Unfall erleiden. Ein Zusammenprall auf dem Platz, nicht ernst genug genommen, reicht.
So wie bei Thomas Ebert (Name geändert). Der Hinterkopf des Gegenspielers knallte beim Kopfballduell gegen seine Nasenwurzel. Es schmerzte, aber als Ebert die Nase entlang tastete, war keine Unebenheit zu spüren, es blutete nicht. Also spielte der 25-jährige Hobbyfußballer weiter. Noch 60 Minuten. Zum Ende des Spiels merkte Ebert einen leichten Schwindel, beim Duschen drangen die Stimmen der Mitspieler wie aus einem Nebel zu ihm.
Als er nach Hause kam, musste er sich übergeben, der Schädel brummte, an Aufstehen war nicht mehr zu denken. Der von der Freundin gerufene Arzt diagnostizierte eine Gehirnerschütterung – als er hörte, dass Ebert nach dem Zusammenprall noch eine Stunde lang Fußball gespielt hatte, attestierte er ihm und seinen Sportskollegen: "atemberaubende Fahrlässigkeit".
Mehr als 20 Gehirnerschütterungen erlitt er in seiner Karriere
Die an der Boston Harvard Medical School forschende Neurobiologin Katharina Koerte fand in Fußballerhirnen auch dann problematische Entzündungen, wenn kein schwerer Stoß den Schädel getroffen hatte. Das ist eine Bestätigung für die These, wonach schon die üblichen Kopfbälle ausreichen, um das Gehirn nachhaltig zu erschüttern. Vor allem Kinder sieht die Forscherin in Gefahr, weil ihre Köpfe im Verhältnis zu ihren Körpern größer sind als die von Erwachsenen und beim Kopfball stärker ins Schleudern kommen.
Die Commotio cerebri, wie die Gehirnerschütterung in der Fachsprache heißt, wird von den Sportlern selbst oft bagatellisiert. "Gerade im Sport werden Gehirnerschütterungen oft nicht ernst genug genommen", sagt Neurologe Peter Schwenkreis vom Bergmannsheil-Klinikum der Universität Bochum. "Ganz nach dem Motto: Harte Jungs kennen keinen Schmerz."
Wie es einem mit einer solchen Bagatelle ergehen kann, zeigt der Fall des Eishockey-Profis Stefan Ustorf, der im Jahr 2013 seine Karriere beendete, nachdem er sich in einem Spiel eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Er leidet seit dem Unfall unter Licht- und Geräuschüberempfindlichkeit, schläft nachts nur noch fünf Stunden, trotz massiven Schlafmittelkonsums, leidet unter Kopfschmerz- und Schwindelattacken. Ustorf hat während seiner Sportlerlaufbahn nicht nur eine, sondern insgesamt mehr als 20 Gehirnerschütterungen erlitten.
Neuronen sind besonders anfällig für Verletzungen
Zehn bis 20 Prozent der Sportler, die wegen einer Gehirnerschütterung behandelt werden müssen, haben zuvor schon "mindestens eine" erlitten, schreiben Axel Gänsslen und Wolfgang Klein, die im Auftrag der Deutschen Eishockeyliga eine Broschüre zum Thema verfasst haben.
Dass Gehirnerschütterungen das Suizid- und Depressionsrisiko erhöhen, belegt auch eine aktuelle Studie vom Sunnybrook Health Sciences Centre in Toronto. Die Wissenschaftler haben Daten von über 235.000 Erwachsenen analysiert, die in Ontario wegen einer Gehirnerschütterung behandelt worden waren. In den zehn Jahren nach der Diagnose erkrankten die Patienten dreimal so häufig an einer Depression wie durchschnittliche Kanadier, ihre Selbstmordrate war sogar vier Mal höher.
Die massiven Langzeitwirkungen erklären sich aus der besonderen Verletzungsanfälligkeit der Neuronen. "Sie sind wie eine lange dünne Nudel, ein Spaghetti, mit einem Zellkörper an einem ihrer Enden", erklärt der US-amerikanische Neurologe Jeffrey Bazarian. "Das macht sie sehr empfindlich für Dehnungen." Wenn nun der Kopf einen Stoß abbekommt, dreht sich das Gehirn ruckartig um seine Achse im Nacken, mit der Folge, dass die Spaghettinerven ebenso ruckartig gedehnt und daraufhin porös werden.
Das erklärt auch, warum bei einer Gehirnerschütterung besonders der für Orientierung und Erinnern wichtige Stirnlappen betroffen ist. Der deutsche Fußball-Nationalspieler Christoph Kramer fragte beim letzten WM-Finale den Schiedsrichter, welches Spiel eigentlich gerade laufe. Kurz vorher war Kramers Kopf mit der Schulter eines Gegenspielers kollidiert. Das Areal für das Erinnern liegt im Gehirn weit entfernt von der Drehachse, sodass in ihm besonders starke Beschleunigungskräfte entstehen. Kramer musste vom Platz.
Fünf Fragen entscheiden, ob der Spieler vom Eis muss
Die meisten akuten Symptome verschwinden schnell. Aber die Neuronen bleiben nach einer Gehirnerschütterung lange überempfindlich. Wie lange, das lässt sich schwer vorhersagen. Hinzu kommt, dass die porösen Neuronen ihre Schäden an andere Nervenzellen weitergeben. Als Ärzte der New Yorker Brain Trauma Foundation Patienten untersuchten, die ein Jahr zuvor eine Gehirnerschütterung erlitten hatten, fanden sie Schäden auch an Stellen, die nach dem Unfall noch intakt waren.
Neurologen raten dringend, auf die ersten Zeichen einer Gehirnerschütterung zu achten. Die Deutsche Eishockey Liga hat kürzlich festgelegt, dass ein Spieler nach einem starken Schlag auf den Kopf sofort fünf Fragen beantworten muss. Etwa: "In welchem Drittel des Spiels befinden wir uns gerade?", und: "Wer hat das letzte Tor erzielt?". Liegt der Spieler bei nur einer Frage falsch, muss er vom Eis.
Bald könnte den ärztlichen Betreuern eines Teams ein Schnelltest helfen, einzuschätzen, ob eine Verletzung am Gehirn vorliegt. US-Forscher haben den Test entwickelt, mit dem ein Tropfen Blut auf ein Protein namens S100B untersucht werden kann, das als zuverlässiger Indikator für die typischen Gewebeschädigungen einer Gehirnerschütterung gilt. Wer das Protein im Blut hat, muss vom Feld. Und eine Pause einlegen. Ruhe ist die wichtigste Therapie nach einer Gehirnerschütterung. Aber sie muss nicht so lange dauern, wie häufig angenommen wird.
Wer sich nicht schont, dem droht das "Second Impact Syndrome"
Zwei Tage, das reicht für Kinder nach einem Zusammenprall. Forscher des Children`s Hospital of Wisconsin fanden keine Hinweise, dass längere Ruhezeiten mehr bringen. Zwei Tage lang müssen die Kinder aber tatsächlich jede körperliche und geistige Anstrengung meiden. Sie dürfen auch nicht Computer spielen oder fernsehen. Nach zwei Tagen sollen die jungen Patienten langsam an den Alltag herangeführt werden. In der Regel wird der Arzt sie eine Woche vom Schulunterricht freistellen.
Aber wann dürfen kleine und große Sportler wieder trainieren? An der Universität Zürich untersuchen Neurologen seit vier Jahren im "Swiss Concussion Center" diese Frage – anhand von erwachsenen Fußballern. Wann ein Patient wieder Sport treiben darf, hänge von der Schwere seiner Symptome ab, sagt Nina Feddermann-Demont.
Bei zentralen Funktionsstörungen wie Gedächtnislücken, Desorientierung und gestörte Augenbewegungen müsse man eine längere Ruhephase in Betracht ziehen. "Bei einer Störung des Gleichgewichtsorgans empfehlen wir eine zügige Aufnahme des Trainings, das bestimmte Koordinationsübungen beinhalten sollte." Bei einer leichten Gehirnerschütterung könne ein Sportler nach kurzer "Komplettpause" stufenweise mit dem Training beginnen und auch schon sechs Tage nach der Verletzung wieder 90 Minuten spielen.
Der Hobbyfußballer Ebert, der nach seiner Gehirnerschütterung noch eine Stunde weiter gespielt und seine überdehnten Neuronen belastet hatte, wurde noch ein halbes Jahr nach dem Unfall von Kopfschmerzen geplagt. Der Arzt sagte ihm, er habe Glück gehabt. Wenn das erschütterte Gehirn keine Pause bekommt, erleidet es oft das sogenannte "Second Impact Syndrom". Einen zweiten Schlag. Es folgen Kreislaufzusammenbrüche, Wahrnehmungsstörungen, Hirnschwellung. Der Patient bleibt für den Rest des Lebens beschädigt. Wenn er den zweiten Schlag überlebt.
Quelle : welt.de
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