Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi fordert von der EU Reformschritte in historischem Ausmaß, um wirtschaftlich mit Wettbewerbern wie den USA und China Schritt halten zu können. Würden die Reformen nicht umgesetzt, würde Europa in eine existenzielle Krise geraten. "Wenn Europa nicht produktiver wird, werden wir gezwungen sein, uns zu entscheiden. Wir werden nicht in der Lage sein, gleichzeitig führend bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu werden", erklärte er in einem Bericht. "Wir werden nicht in der Lage sein, unser Sozialmodell zu finanzieren. Wir werden einige, wenn nicht sogar alle unsere Ambitionen zurückschrauben müssen."
In einem Bericht im Auftrag der EU-Kommission verlangt der Italiener einen Dreiklang aus einer koordinierten Industriepolitik, schnelleren Entscheidungswegen und massiven Investitionen. In dem Bericht beziffert Draghi für die EU einen Bedarf von zusätzlichen Investitionen in Höhe von 750 Milliarden bis 800 Milliarden Euro pro Jahr. Dies entspricht bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. Das sei weit mehr als die ein bis zwei Prozent, die im Marshallplan zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vorgesehen waren.
Ein Teil der erforderlichen enormen Investitionen werde durch bestehende nationale oder EU-Finanzierungsquellen abgedeckt. Doch seien möglicherweise neue gemeinsame Quellen erforderlich, heißt es in dem Bericht, der als Beispiele Investitionen in die Verteidigung und das Energienetz nennt. Die Entscheidungsprozesse der EU seien überdies komplex und träge.
Die Bundesregierung reagierte zurückhaltend. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte, man werde die Vorschläge auswerten, aber die deutsche Verfassung müsse beachtet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass es eine permanente Schuldenunion kritisch sieht. Dauer und Volumen gemeinsamer EU-Schulden müssten festgelegt sein. Kritiker haben gewarnt, dass Deutschland bei gemeinsamen EU-Schulden für klammere Staaten haften müsste.
Deutlicher wurde Finanzminister Christian Lindner. Eine gemeinsame Schuldenaufnahme löse die strukturellen Probleme nicht. "Mehr Staatsschulden kosten Zinsen, schaffen aber nicht zwingend mehr Wachstum", erklärte der FDP-Politiker. Vor allem dürfe die Verantwortung der EU-Mitglieder für die eigenen Staatsfinanzen nicht weiter verwischt werden. "Deutschland wird dem nicht zustimmen."
Öfter Mehrheitsentscheid
Derweil heißt es im Bericht weiter, dass Reformbedarf bestehe: "Dazu wird es erforderlich sein, die Arbeit der EU auf die dringendsten Probleme zu konzentrieren, eine effiziente politische Koordinierung hinter gemeinsamen Zielen sicherzustellen und bestehende Governance-Verfahren auf eine neue Art und Weise zu nutzen, die es den Mitgliedsstaaten, die schneller vorankommen möchten, ermöglicht, dies zu tun", heißt es.
Darin wurde vorgeschlagen, die sogenannte qualifizierte Mehrheitsentscheidung - bei der es nicht notwendig ist, dass eine absolute Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür stimmt - auf mehr Bereiche auszuweiten und als letztes Mittel gleichgesinnten Ländern zu gestatten, bei manchen Projekten eigene Wege zu gehen.
Laut Draghi hat die EU nach dem Verlust des Zugangs zu billigem russischem Gas mit höheren Energiepreisen zu kämpfen und kann sich nicht länger auf offene ausländische Märkte verlassen. Der frühere italienische Regierungschef erklärte, die EU müsse Innovationen ankurbeln, die Energiepreise senken und gleichzeitig die grüne Transformation vorantreiben. Zudem gelte es, die Abhängigkeit von anderen Ländern, insbesondere von China bei wichtigen Mineralien, zu verringern und die Investitionen in die Verteidigung zu erhöhen.
Abstand zu USA und China wächst
"Die Vorschläge von Mario Draghi geben wichtige Impulse, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken", erklärte DIHK-Präsident Peter Adrian. Der Wirtschaft sei besonders dann geholfen, wenn hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie und eine schleppende digitale Transformation als Hindernisse der Wettbewerbsfähigkeit konsequent abgebaut würden. Bei Initiativen zur Verringerung strategischer Abhängigkeiten müsse die EU allerdings darauf achten, dass sie nicht über das Ziel hinausschieße – wie zum Beispiel durch Vorgaben für eine Mindestproduktion in der EU.
Das Wirtschaftswachstum in der EU war in den vergangenen beiden Jahrzehnten durchweg langsamer als in den USA, und China vollzog einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Der Rückstand Europas war zum großen Teil auf die geringere Produktivität zurückzuführen.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte Draghi als ökonomischen Vordenker mit der Aufgabe betraut, das Wettbewerbsprofil der Länder-Gemeinschaft auf dem Weg zur grünen Transformation zu schärfen. Die EU müsse auf dem Weg in die Zukunft klären, wie sie die Inflation drücken, den Fachkräftemangel bekämpfen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln könne, forderte sie im September vorigen Jahres.
Quelle: ntv.de, jwu/rts/DJ/dpa
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