Abgrund unterm Regenbogen

  03 Mai 2016    Gelesen: 400
Abgrund unterm Regenbogen
"Keine Angst, ich sperr Dich nicht ein!" Was Kinder mit Erzieherinnen erleben können: Recherchen von ZEIT ONLINE zeigen systematische Probleme in der Boombranche Kita.
Die Eltern wundern sich. Anna* schläft so schlecht. "Anna Angst", ruft das Mädchen eines Abends. "Dunkeln zankt!" Dunkeln zankt, was soll das heißen? Ungefähr zwei Jahre ist das Kind alt. Mit den kleinen Händen macht es hektische Bewegungen, als führe es einen Löffel zum Mund. "Tanja macht immer so. Tanja zankt." Die Eltern geben nicht viel darauf. Auch nicht, als sich die Tochter selbst schlägt: "Tanja so gemacht!" Bloß nicht überbesorgt sein. Vielleicht erzählt das Kind von einem neuen Spiel mit seiner Erzieherin.

Tanja* betreut Anna seit einigen Monaten in der Kita Regenbogen. Hinter hohen Linden steht das Gründerzeithaus in einer Nebenstraße von Antweiler. Das Dorf liegt zwischen waldigen Hügeln der Eifel in einem entlegenen Winkel von Rheinland-Pfalz. Annas ältere Schwestern gingen gerne in die idyllische Dorfkita mit den rotgefassten Sprossenfenstern und dem Regenbogen über dem Eingang. Auf dem Spielplatz der früheren Volksschule können die Kinder schaukeln und klettern.

An Personal fehlt es nicht und Tanja, eine herzliche Frau Mitte vierzig, mit Temperament und Freude an Kindern, gilt als besonders erfahrene Fachkraft. Eine der Besten im Haus. Annas Eltern – Silke und Bernd Neumann* – mögen sie und vertrauen ihr. Vom dunklen Geheimnis der jüngsten Tochter ahnen sie nichts. Auch darauf, dass Anna bei Tanja in der "Mäusegruppe" Schlimmes erleben könnte, kommen die Neumanns nicht.

Boombranche Kita

Kindertagesstätten gelten als perfekte, kleine Welten. Doch zugleich ist die Betreuung der Jüngsten in den vergangenen zehn Jahren zu einem gewaltigen Geschäft herangewachsen. Seit die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen 2007 den Ausbau von Kitaplätzen massiv vorantrieb, boomt die Branche. Im Jahr 2006 gaben Bund, Länder und Kommunen rund zehn Milliarden Euro für Kinderbetreuung aus. 2014 war es mit fast 23 Milliarden schon mehr als doppelt so viel.

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Über die Abgründe der Branche dringt wenig nach außen. Die Behörden reden nicht gern über Missstände, weil sie die Vorgaben der Politik einhalten müssen. Träger und Leitungen der Kitas äußern sich nicht, weil sie dann zugeben müssten, wie schwer es ihnen fällt, trotz des starken Ausbaus die Qualität ihrer Einrichtungen zu halten. Sogar Eltern schweigen oft, weil sie auf die Plätze angewiesen sind. Und die Bundesregierung schiebt bisher ergebnislos ein längst versprochenes Kita-Qualitätsgesetz vor sich her. Geraten Skandale schließlich doch ans Licht, verwenden die Verantwortlichen viel Energie darauf, sie kleinzureden.

"Einmal", sagt Silke Neumann, "hab ich Anna total verstört abgeholt." Als sie in der Kita nachfragte, erzählten Erzieherinnen von einem Streit um ein Glas Wasser. Wer will sich da als Helikopter-Mama lächerlich machen? Silke Neumann hat selbst beruflich mit Kindern und deren Eltern zu tun, sie unterrichtet Biologie an einem katholischen Gymnasium, ihr Mann arbeitet als Gewässerökologe. Im Nachbarort haben sie sich ein Haus neben der Burgschänke hergerichtet. Hühner picken im Garten, durchs Wohnzimmer schnurrt eine Katze. Die Neumanns werfen sich heute vor, dass sie zu spät begriffen, warum ihre Jüngste oft weinte, wenn sie in die Kita sollte.

Tanja und drei Kolleginnen aus der Kita Regenbogen sind seit Dezember vor dem Landgericht Koblenz angeklagt. Polizei und Staatsanwaltschaft haben in zwei Jahre dauernden Ermittlungen eine lange Liste an Vorwürfen zusammengetragen: Drei der Erzieherinnen sollen Anna und acht andere Kinder traktiert haben, vor allem während des Mittagessens in einem Speiseraum im Erdgeschoss, der den hübschen Namen "Sterneküche" trug. Den Kindern sei gegen ihren Willen Essen in den Mund geschoben und Flüssigkeit nachgeschüttet worden, bis sie schlucken mussten. Parierten die Kinder nicht, sollen sie bestraft worden sein. Hände und Füße seien mit Klebeband am Stuhl fixiert, Kinder in eine dunkle Abstellkammer gesperrt, geschlagen, ihr Mund zugeklebt worden. Ein Kind habe sich übergeben und soll mit Erbrochenem in der Hand weitergefüttert worden sein.

Misshandlung und Freiheitsberaubung

Die Staatsanwaltschaft wirft den Frauen Misshandlung von Schutzbefohlenen, Freiheitsberaubung und Nötigung vor. Mitangeklagt ist auch eine Kollegin, die "trotz einer hierzu bestehenden Rechtspflicht die Misshandlung eines Kindes nicht unterbunden" habe. Laut der Staatsanwaltschaft bestreiten die vier Angeschuldigten die Taten. Der Strafverteidiger der Erzieherin Tanja will sich nicht zu dem Fall äußern.

Ein seltenes Horrorszenario in einer ansonsten heilen Kitawelt. Das ist die offizielle Lesart dessen, was sich in Antweiler zugetragen haben soll. Doch je länger man Belege für diese Hypothese vom tragischen Einzelfall sucht, desto mehr Indizien finden sich für systematische Probleme. Es gibt viele Einrichtungen, in denen Kinder vorbildlich umsorgt und gefördert werden. Aber es gibt auch andere, wo Überforderung und Lieblosigkeiten den Alltag prägen, manchmal sogar Vernachlässigung und Gewalt. Problematisch sind nicht nur Fälle wie jener in Antweiler, bei denen es zu einer ganzen Serie massiver Vorwürfe kam und die Zahl mutmaßlich betroffener Kinder groß ist. Auch subtilere, nicht strafbare Übergriffe können Kleinkinder belasten: rücksichtslose Füttermethoden ebenso wie ein gehässiger Umgangston, ausbleibender Trost oder das gezielte Bloßstellen nach dem Einnässen.

"Jeder weiß es, keiner spricht darüber. Es ist ein offenes Geheimnis", sagt Ursula Rabe-Kleberg, eine emeritierte Professorin für Bildungssoziologie an der Universität Halle. Rabe-Kleberg hat bis 2015 ein Institut für frühkindliche Pädagogik geleitet. Das Gewaltproblem werde tabuisiert, kritisiert die Wissenschaftlerin. "Unter der Hand wird in Fachkreisen längst diskutiert, dass wir eine große Untersuchung solcher Vorfälle brauchen."

Immer mehr Kinder verbringen einen großen Teil ihrer ersten Lebensjahre in Kindertageseinrichtungen. Seit 2006 ist die Zahl der Kitaplätze in Deutschland um eine halbe Million gestiegen. 6.335 neue Einrichtungen sind entstanden, rund 170.000 zusätzliche pädagogische Mitarbeiter nahmen die Arbeit auf. Gerade in Westdeutschland waren die Ausbauquoten gigantisch. Allein in Bayern arbeiten heute 33.000 Erzieherinnen mehr als noch vor zehn Jahren. In Baden-Württemberg versechsfachte sich die Zahl der Kleinkinder unter drei Jahren, die in Kindertageseinrichtungen betreut werden. Oft müssen Eltern froh sein, wenn sie überhaupt einen Kitaplatz abbekommen, trotz Rechtsanspruch. Auch wer pädagogische Fachkräfte sucht, darf vielerorts nicht wählerisch sein. Das hat Folgen.

Leiterinnen von Kindergärten wenden sich seit einiger Zeit an Gewerkschafter und Fachjuristen. Was sie denn tun sollten, wenn problematische Erzieher im eigenen Team auffielen? Marion Hundt war überrascht, als sie die ersten Beschwerden mitbekam. Hundt lehrt Öffentliches Recht in Berlin, sie ist eine Expertin auf dem Feld des Kitarechts. Hundt sagt, dass sie das anfangs für ein Phänomen von "fünf schwarzen Schafen" gehalten habe. Doch als sie ihre Erfahrungen während ihrer Fortbildungen für Kitaleiterinnen ansprach, seien in der Pause Führungskräfte auf sie zugekommen. "Es gibt also offensichtlich ein größeres Problem." Die These von den wenigen schwarzen Schafen hat die Juristin verworfen.

Auch Norbert Hocke, Hauptvorstand der Bildungsgewerkschaft GEW, verlangt mittlerweile eine "Kultur des Hinschauens". Beim sexuellen Missbrauch habe die Gesellschaft diese Aufmerksamkeit schmerzlich entwickeln müssen, sagt Hocke. Wenn es um die Gewalt in Kitas gehe, höre er immer wieder von Einzelfällen. Fälle, die dem ähneln, was Anna in Antweiler erlebt haben soll. "Es kommt also immer wieder vor. Aber wie oft? Keiner kann das sagen."

Es gibt Kleinkind-Pädagoginnen, die hin und wieder in das Dunkelfeld hineinleuchten. Nicht gezielt, sondern unbeabsichtigt, während sie Kitas evaluieren, Erzieherteams coachen oder deren Arbeit zu Forschungszwecken begleiten. Eine ehemalige Doktorandin und eine Pädagogin, die als Kitacoach arbeitet, beide aus unterschiedlichen Bundesländern, haben ZEIT ONLINE von ihren Erlebnissen erzählt. Anonym, weil sie eigentlich nicht öffentlich darüber reden sollten. "Das Problem wird einfach nur ausgeblendet", sagt die Trainerin. "Niemand will diesen Kochtopfdeckel anheben."

Die beiden Frauen haben Alltagsszenen in Dutzenden von Kitagruppen gefilmt, um die Situationen auszuwerten. Einige Sequenzen gehen ihnen seither nicht mehr aus dem Kopf. Einmal habe eine Erzieherin ein Kind über einen Mülleimer gehalten und gedroht: "Da gehörst du hin, wenn du so viel Schmutz machst." Die Frau sei keine unqualifizierte Aushilfe gewesen, sondern die Leiterin der Einrichtung.

In einer anderen Kita hätten hungrige Kleinkinder auf das Mittagessen gewartet. Es habe gedauert, bis endlich eine Schüssel auf den Tisch gekommen sei. Ein Kind habe mit der Hand danach gegriffen. Die Erzieherin habe ihm deshalb auf die Finger geschlagen, vor laufender Kamera. Die Pädagogin sagt heute, dass sie damals ein Gespräch über den Vorgang verlangt habe. Sie habe zudem gewollt, dass die Kitaleitung den Träger über den Schlag auf die Finger informiert. "Genau das passierte nicht." Die Pädagogin hat den Träger daraufhin angezeigt.

Haben Sie ebenfalls Mißstände in der Kita Ihres Kindes erlebt? Berichten Sie uns von Ihren Erlebnissen in der ZEIT ONLINE-Leserumfrage. © Christoph Stache/AFP/Getty Images
Wieder woanders fiel der Trainerin ein fieberndes Kind auf. Keine der Erzieherinnen habe sich gekümmert, das Kind habe mit auf den Spielplatz gemusst. "Mit Fieberbäckchen saß es auf einem Schaukelgerät und weinte einfach vor sich hin." Niemand habe das Kind getröstet. "Da hab ich gesagt: Kamera aus – machen Sie sofort was!" Die Pädagogin nennt den Umgang mit dem fiebernden Kind "emotionale Gewalt". Ihre Kritik hätten die Erzieherinnen aber oft gar nicht verstanden. "Denen fehlte das Gefühl für das, was ihnen passiert war." Beide Beobachterinnen fragen sich, was in solchen Einrichtungen geschieht, wenn gerade niemand filmt.

Die Politik scheint davon bislang nichts wissen zu wollen – zumindest nicht genau. Anders lässt sich nicht erklären, dass ausgerechnet über die Abgründe bei der Betreuung der Kleinsten keine verlässlichen Zahlen erhoben werden, obwohl in Deutschland so gut wie alles mit Detailliebe statistisch vermessen wird. Tatsächlich ist das Sammeln der Zahlen nicht trivial. Kinder können nicht einordnen, was mit ihnen geschieht. Manchmal lassen sie sich falsche Behauptungen in den Mund legen, die zur öffentlichen Hinrichtung ausarten. Das haben die Schlagzeilen um angebliche sexuelle Gewalt an einer Mainzer Kita im vergangenen Jahr gezeigt. Andererseits akzeptieren Kinder selbst unangemessene Erziehungsmethoden, weil sie denken, die Eltern wissen, was in der Kita passiert und stehen dahinter. Oder sie sind einfach noch zu klein, um von ihren Erfahrungen zu erzählen.

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