Die beispiellose Jagd auf IS-Schläfer in Flüchtlingstarnung

  16 Mai 2016    Gelesen: 442
Die beispiellose Jagd auf IS-Schläfer in Flüchtlingstarnung
Mehrere Attentäter von Paris und Brüssel kamen als Flüchtlinge nach Europa. Sie tauschen Identitäten, tauchen unter. Der Fall zweier Islamisten zeigt: Der IS entsandte mehr Fanatiker als befürchtet.
Gleich neben dem abgerissenen rechten Fuß des Attentäters lag sein Ausweis – fast wie neu. Irgendwie so, als ob die Detonation, mit der sich Ahmad Almohammad am Tor D des Pariser Stade de France in Stücke riss, dem Dokument nichts anhaben sollte. Es schien, als hätte der Attentäter den Pass vor seinem Tod noch schnell von sich weggeworfen. Mit Absicht. Die Ermittler stießen jedenfalls schnell auf den syrischen Pass. Und damit auf eine Spur, die Europas Sicherheitsbehörden noch immer Sorgen bereitet.

Die Anschläge von Paris sind nun ein halbes Jahr her. 130 Menschen wurden am 13. November 2015 in einem Konzertsaal ermordet, in Bars und Restaurants niedergemetzelt oder auf offener Straße erschossen. Sieben der Attentäter waren in Europa geboren.

Zwei jedoch kamen von weit her, um in Paris zu morden. Ahmad Almohammad war der eine. Mohammed Almahmod hieß der andere. Sie nutzten es aus, dass Europa im vergangenen Jahr mit der Flüchtlingskrise hoffnungslos überfordert war. In Syrien waren sie für ihre Mordmission ausgebildet worden. Nach Europa kamen sie als Flüchtlinge getarnt.

Ein sicherheitspolitischer Albtraum ist wahr geworden: Europa hatte irgendwann schlichtweg den Überblick verloren über jene Hunderttausenden, die aus Bürgerkriegen im Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika flohen. Gleich mehrere islamistische Terrorzellen haben das ausgenutzt. In Paris und Brüssel schlugen die Ersten zu.

Aber gibt es noch weitere? Warten noch Schläfer irgendwo auf dem Kontinent, um ebenfalls zu morden?

Europas Polizei und Geheimdienste zumindest gehen davon aus. Diese Befürchtung ist nicht unbegründet. Denn der IS hat offenbar mehr Attentäter nach Europa entsandt als ursprünglich angenommen – zwei Terrorverdächtige sitzen seit Monaten in einem österreichischen Gefängnis. Auch sie sollten wohl am Massaker in Paris teilnehmen.

Die "Welt am Sonntag" kann aufgrund von vertraulichen Ermittlungsunterlagen und Gesprächen mit Vertretern von Sicherheitsbehörden den Weg der beiden gescheiterten Terroristen rekonstruieren. Es ist die Geschichte einer bislang nahezu beispiellosen Jagd. Und darüber, wie der sogenannte Islamische Staat (IS) den Flüchtlingsstrom ausgenutzt hat. Sie zeigt, dass sich Europa vielleicht an die Terrorgefahr gewöhnen muss.

Sollte ihre Route rekonstruierbar sein?

Die Sonne geht gerade erst auf, als früh am 3. Oktober 2015 ein vollgepacktes Boot die Türkei in Richtung Griechenland verlässt. 198 Personen drängen sich auf dem Schiff, darunter die beiden Männer, die sich später am Fußballstadion in Paris in die Luft sprengen werden. Sie reisen nicht allein. Begleitet werden sie von zwei weiteren Dschihadisten – dem Algerier Adel Haddadi und dem Pakistaner Mohammed Ghani Usman. Alle vier sind im Auftrag des IS unterwegs.

In Syrien wurden sie in Ausbildungslagern der Terroristen gedrillt. Ein hochrangiges IS-Mitglied gab ihnen den Befehl, nach Frankreich zu gehen und einen Auftrag auszuführen. Genaue Instruktionen erhalte man vor Ort. Mit einem Pick-up wurden die Männer an die Grenze gebracht, dann mit einem Schleuser zu Fuß in die Türkei. In der türkischen Küstenstadt Izmir bezahlten sie einen weiteren Schlepper, dieses Mal für die Überfahrt zur griechischen Insel Leros. Vorher kauften sie noch Schwimmwesten und wasserdichte Beutel für die Pässe.

Sie hüten die Dokumente wie Schätze. Sicherheitsbehörden werden später annehmen, dass die Paris-Attentäter von Anfang an daraus aus waren, dass man ihren Weg später genau rekonstruieren kann. Die vielen friedlichen Flüchtlinge sollten diskreditiert werden, so die These.

Zum einem hat der IS damit zu kämpfen, dass er von immer mehr Syrern abgelehnt wird. Zum anderen gehört es zur Strategie der Terrormiliz, Muslime und Christen aufeinanderhetzen zu wollen, um gar nicht erst ein friedliches Miteinander in Europa entstehen zu lassen. Dann gibt es noch die Ansicht, dass der IS seine Macht demonstrieren wollte – eine "show of force" (Machtdemonstration) nennt es Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Nach dem Motto: "Seht her! Ihr entdeckt uns nicht, selbst wenn ihr uns kontrolliert."

Warum ließ sie Griechenland ziehen?

Die kleine Insel Leros ist im Oktober einer der wenigen Orte, an denen die griechischen Behörden in der Lage sind, fast alle ankommenden Migranten zu registrieren. Von einer gründlichen Prüfung – wie sie die EU eigentlich vorschreibt – ist man damals allerdings noch weit entfernt. Niemandem fällt auf, dass Ahmad Almohammad offenbar mit dem Pass eines getöteten Soldaten des Assad-Regimes einreist. Mohammed Almahmod legt gar ein Dokument vor, dessen Zahlenfolge dutzendfach auf gefälschten Pässen auftaucht. Dennoch lassen die griechischen Grenzbeamten die Männer passieren.

Während sie sich auf den Weg nach Paris machen, geraten Adel Haddadi und Mohammed Ghani Usman in die obligatorische Befragung durch Beamte der Grenzschutzagentur Frontex. Und diese zweifeln schnell an den Aussagen der angeblichen Flüchtlinge.

Beide geben sich als Syrer aus. Doch der eine spricht kaum Arabisch, und der andere kann keine Nachfrage dazu beantworten, wie es in seinem angegebenen Geburtsort Aleppo eigentlich aussieht. Die Beamten untersuchen die Pässe der beiden genauer – und stellen fest, dass sie zu einer Tranche von syrischen Blanko-Pässen gehören, die der IS bei seinem Siegeszeug erbeutet hatte.

Die zuständigen griechischen Behörden müssten alarmiert sein, nicht zuletzt weil es ausgerechnet Athen selbst war, das schon am 24. Juni 2014 die Zahlenreihen in das Schengener Informationssystem (SIS) eingepflegt und die Dokumente zur Fahndung ausgeschrieben hatte.

Doch Haddi und Usman werden lediglich wegen falscher Dokumente verhaftet – nicht wegen Terrorverdachts. Am 27. Oktober bekommen sie die Auflage, das Land innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Aber warum agieren die Griechen nur so fahrlässig? Steckt vielleicht ein Nachrichtendienst dahinter, der gar froh ist, endlich zwei mutmaßliche IS-Terroristen auf Schritt und Tritt im Blick haben zu können?

Zur Kontrolle ausgeschrieben – nicht zur Festnahme

Bereits einen Tag nach ihrer Freilassung erreichen die beiden Mazedonien. An ihre Hintermänner in Syrien schreiben sie eine WhatsApp-Nachricht: "We need money." (Wir brauchen Geld) Die anderen Terroristen sind zu diesem Zeitpunkt wohl schon längst in Paris. Und verüben ein paar Tage später einen der schwersten Anschläge in der jüngeren europäischen Geschichte.

In Sicherheitsbehörden europaweit herrscht jetzt höchste Alarmstufe: Gibt es noch mehr Zellen? Griechische Behörden melden bereits wenige Stunden nach den Attentaten einen Treffer in ihren Datenbanken. Der gut erhaltene Pass neben der Leiche des Selbstmordattentäters Ahmad Almohammad ist leicht zurückzuverfolgen. Schnell ist klar: Almohammed und auch ein weiterer Selbstmordattentäter wurden am 3. Oktober auf Leros registriert.

Was aber, wenn sie nicht die einzigen Terroristen waren, die auf einem Flüchtlingsboot in die EU kamen? Was nun beginnt, beschreiben Eingeweihte als eine der umfassendsten Fahndungen, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat. Mehrere europäische Geheimdienste und Polizeibehörden kooperieren bei der Suche nach weiteren IS-Terroristen.

Deutsche Sicherheitsbehörden spielen in den kommenden Wochen eine besondere Rolle. Beim Bundeskriminalamt (BKA) in Berlin-Treptow, dem Sitz der Fachabteilung für islamistischen Terrorismus, wird eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) namens "Echo" ins Leben gerufen.

Die Fahnder beugen sich über die Liste der Flüchtlinge, die an diesem einen Tag auf Leros registriert wurden. 142 Personendaten von den über 16-Jährigen werden unter anderem mit den Listen der IS-Pässe abgeglichen. Mit Erfolg. Es gibt zwei weitere Treffer – Männer, die sich Chaled Alomar sowie Faisal Alaifan nennen und angeblich aus Syrien stammen. Es sind die Tarnnamen von Adel Haddadi und Mohammed Ghani Usman.

Die Jagd beginnt. Aber auch jetzt werden die beiden Verdächtigen noch immer nicht im SIS-Fahndungssystem zur Festnahme, sondern lediglich zur verdeckten Kontrolle ausgeschrieben.

Hinweise aus Deutschland entscheidend

Nachdem sie in Griechenland fast aufgeflogen waren, wechselten Haddadi und Usman auf ihrem Weg über die Balkanroute immer wieder ihre Identität. Am 4. Dezember 2015 schließlich erreichen die Männer den Grenzübergang Spielfeld in Österreich. Diesmal geben sich beide nicht als Syrer, sondern als Asylbewerber aus Nordafrika aus. Erneut nennen sie falsche Namen – Nasser Said Moqaiss aus Algerien und Mohammed al-Fatori aus Tunesien. Sie kommen im Asylbewerberheim in der Münchener Straße in Salzburg unter. Von hier aus sind es nur ein paar Kilometer von der Grenze bis nach Deutschland.

Warum aber gab es keine Haftbefehle für die mutmaßlichen IS-Terroristen? Hätten sie nicht viel früher zur Festnahme ausgeschrieben werden müssen? "Wir hatten ein Netz gelegt", sagt ein Ermittler, der in den Fall involviert war. Und: "Wir hatten nicht genug in der Hand, um sie festzunehmen. Aber wir wollten wissen, wo sie sind." Bei einer Einreise nach Deutschland aber wären sie wohl festgenommen worden – auch ohne Haftbefehl. Und zwar auf Grundlage der "Gefahrenabwehr" nach dem BKA-Gesetz.

Wer hätte gedacht, dass mutmaßliche Terroristen so gut durch strenge Gesetze geschützt sind? Dass die beiden Dschihadisten schließlich aufgespürt werden, liegt an den Informationen, die das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den österreichischen Behörden Anfang Dezember übermittelt hat – inklusive jener Fotos, die auf Leros von ihnen gemacht worden waren. Nur wenige Stunden später konnten die Männer ausfindig gemacht und observiert werden.

Noch am Abend des 10. Dezember rückt die Spezialeinheit "Cobra" der österreichischen Polizei in Salzburg an und nimmt die beiden Verdächtigen fest. Kurz zuvor haben sie sich im Internet über Bahntickets nach Paris informiert. Schließlich findet man bei ihnen eine türkische Telefonnummer, die auch auf dem zerknüllten Zettel in der Tasche eines der Paris-Attentäter steckte. Sie gehört wohl einem IS-Kontaktmann.

Paris-Attentäter: Angeblich 90 Mitverschwörer

Nur wenige Tage nach ihrer Festnahme gibt es umfangreiche Vernehmungen. Mit dabei sind Vertreter des französischen Geheimdienstes. Erst jetzt geben Adel Haddadi und Mohammed Ghani Usman ihre echten Identitäten preis. Und sie erzählen, wie der IS sie für Anschläge in Frankreich rekrutiert habe.

Die Sicherheitsbehörden haben damit zwei weitere mutmaßliche Terroristen gefasst und vielleicht auch weitere Anschläge verhindert. Aber sind das tatsächlich alle IS-Anhänger, die sich auf tödliche Mission nach Europa aufgemacht haben?

Beim BKA und Verfassungsschutz gehen alle paar Tage neue Hinweise ein. Bei den meisten handelt es sich zwar um Verleumdungen. In einigen Fällen aber laufen die Ermittlungen.

Der mutmaßliche Drahtzieher der Paris-Attacken, der Belgier Abdelhamid Abaaoud, soll vor seinem Tod eine düstere Prophezeiung geliefert haben: Er sei mit 90 Terroristen nach Europa gekommen.

Quelle : welt.de

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