Die Sprache der Codes
Erik Neuenschwander, bei Apple für die Privatsphäre der Nutzer zuständig, wird in den Akten mit den Worten zitiert: "Es gibt verschiedene Wege, Programmiercodes zu schreiben, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen." Einige seien effizienter und eleganter als andere: "Darüber hinaus ist Schreiben ein iterativer Prozess, überarbeitungsintensiv und eine mental herausfordernde Aufgabe, wie wenn man Essays, Memos oder sogar Gedichte schreibt." In dieser Logik sind Codes nur ein neuartiges Textgenre. Nun kann man sich über die Schönheit dieser Sprache, die ästhetisch nicht gerade ansprechend ist, trefflich streiten. Rein funktional ist Programmieren aber in der Tat eine Form der Textproduktion. "Hochkomplexe Programmiersprachen sind genauso Sprachen wie Englisch, Deutsch oder Mathematik und mögen vielleicht mehr als Kunst sein", erklärt der Rechtsprofessor Michael Froomkin von der University Miami School of Law im Gespräch mit dieser Zeitung. "Sie können dazu verwendet werden, Ideen auszudrücken. Der Schutz gebührt dem Sprecher oder Autor."
Was Apples Programme mitzuteilen haben, könnte man etwa so wiedergeben: "Hallo, hier sind Ihre Apple-Computer, wir unterstützen diese Software, und wir glauben, diese Software ist sicher für Sie." Wenn das FBI jetzt in diesen Sprachmodus durch forciertes Entsperren der Zugangs-PIN eindringt, käme dies einer erzwungenen Willenserklärung (forced speech) gleich. Dieses Rechtsinstitut hat sich in den USA durch ständige Rechtsprechung entwickelt. 1943 entschied der Supreme Court, dass Studenten das Treuegelöbnis gegenüber Nation und Flagge nicht aufsagen müssen, wenn das gegen ihre religiöse Überzeugung oder Gewissensfreiheit geht. 1977 entschied der Oberste Gerichtshof, dass ein Paar in New Hampshire, das den Schriftzug "Live Free or Die", das Motto des Bundesstaats , auf dem Nummernschild seines Autos unkenntlich machte, nicht gezwungen werden darf, diesen aufzudecken. Aber lässt sich der Analogieschluss auf das forcierte Ändern von Programmiercodes ziehen?
Michael Froomkin ist dieser Ansicht. Indem Apple gezwungen werde, eine elektronische Unterschrift unter einen Code zu setzen, an den die Firma nicht glaubt, werde sie genötigt, eine Behauptung aufzustellen, für die sie nicht einsteht. Apple muss etwas sagen, was es nicht will. Doch es gibt auch skeptische Stimmen. Der Rechtswissenschaftler Stuart Benjamin wendet ein, dass die Definition von Rede im rechtlichen Sinn eine Kommunikation erfordere, mit einer Nachricht und einem Empfänger. Code, der einer binären Logik sequenzierter Einsen und Nullen gehorcht, erfülle diese Voraussetzung nicht. "Wenn ich die Straßen von Manhattan hinunterlaufe und ›eins, null, eins‹ rufe, würde niemand diese Nachricht empfangen", sagte er dem Magazin Fortune. Sprich: Wo kein Adressat, da auch keine Meinung.
Allerdings ist der Schutzbereich der Redefreiheit des First Amendment deutlich weiter gefasst als der der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes. Angenommen, man würde der Ansicht Apples folgen, und Codes wären tatsächlich eine Form der freien Rede – was würde das rechtlich bedeuten?
Wenn man Codes Rederechte einräumt und sie unter den Schutz der Meinungsfreiheit stellt – muss man dann nicht konsequenterweise Algorithmen zu Debatten zulassen? Suchmaschinenalgorithmen fallen nach herrschender Meinung bereits unter die Redefreiheit nach dem First Amendment. Der chinesische Suchmaschinenanbieter Baidu gewann einen Rechtsstreit gegen amerikanische Demokratieaktivisten, die Baidu vorwarfen, demokratierelevante Inhalte in den USA zu blockieren. Ein US-Gericht entschied, dass die Anordnung der Suchergebnisse der redaktionellen Entscheidung einer Zeitung gleichkomme und unter die Meinungsfreiheit falle. Ein Suchmaschinenbetreiber dürfe also nicht gezwungen werden, Webseiten zu indexieren, die er dort nicht stehen haben möchte. Das führte freilich zu dem unhaltbaren Ergebnis, dass eine Suchmaschine, die Inhalte zensiert, den Schutz der Meinungsfreiheit genießt.
Über die Frage, was Sprache eigentlich ausmacht, diskutieren die Gelehrten schon seit Platon. Ist Sprache ein kulturelles oder biologisches Phänomen? Für den amerikanischen Linguisten Noam Chomsky ist Sprache ein genetisches Programm, das jeder Mensch seit der Geburt in sich trägt. Doch kann Sprache auch ein anderes Programm sein, etwas Mechanisches, das von Maschinen artikuliert wird? Sind Codes linguistischer Ausdruck oder nur eine Art Schaltwerk?
Der an der Columbia Law School lehrende Publizist Tim Wu hat eine so simple wie reduktionistische Definition vorgeschlagen: Sprache sei, was gesagt werden kann. Also auch Codes. Komplizierter wird es, wenn selbstlernende Algorithmen Codes generieren. Wem ist dieser Sprechakt zuzurechnen? Dem Menschen, der die Software programmiert? Oder dem Algorithmus, der die Codes erschafft? Nach Apples Argumentation müsste sich der Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit auch auf solche Codes erstrecken.
Wenn wir Maschinen das Sprechen beibringen, müssen wir ihnen dann das Recht auf freie Rede zubilligen? Sind Algorithmen Träger von Grundrechten? Die Definition von Apple wäre derart weitreichend. Man müsste letztlich jede Programmierzeile schützen, weil damit eine Meinung assoziiert sein könnte. Ein Beispiel: In einem modernen Fahrzeug stecken 100 Millionen Zeilen Programmiercodes. Diese als Ausdruck freier Rede zu schützen kann nicht Sinn und Zweck des Gesetzes sein. Der Supreme Court äußerte bereits 2001 in seiner Entscheidung Spence vs. Washington Bedenken. Nicht jede Aktivität mit expressivem Inhalt verdiene den Schutz der Verfassung, weil, so die Richter, "es möglich ist, einen Ausdruckskern in fast jeder Handlung einer Person zu finden – etwa, wenn jemand die Straße hinunterläuft". Das reiche aber nicht aus, es müsse ein hinreichendes Maß an Kommunikation gegeben sein. Das treffe auf Codes nicht zu, die etwa wie ein Kochrezept aufgebaut sind, das eine Maschine anweist, ein bestimmtes Ergebnis zu produzieren. Mit Apples Argumentation würde man jedem Code eine Bedeutung und Semantik zusprechen, die er eigentlich nicht hat. Nicht jede Information ist eine Willenserklärung oder Meinung.
Der Analogieschluss geht fehl, weil das Programmieren einer Schadsoftware dann so behandelt würde wie das Verfassen eines Leitartikels für eine Zeitung – und auch diskriminierende Algorithmen unter den Schutz der Meinungsfreiheit gestellt würden. Könnte es sein, dass wir angesichts des Einsatzes alphanumerischer Zeichenketten im Programmcode einem Fehlschluss unterliegen? Java, C und Co. heißen zwar Programmier sprachen, aber es handelt sich um technische Systeme, mit denen man Anweisungen formuliert. Dagegen ist menschliche Sprache eine Technik, die zur Formulierung von Meinungen, Ansichten und normativen Aussagen eingesetzt wird. Diese Inhalte finden wir schützenwert. Meinungsfreiheit ist ja eine Freiheit der Ansichten und nicht der Zeichenketten.
Bei dem Streit zwischen Apple und dem FBI geht es um die grundsätzliche Frage, wem der Bürger noch vertrauen kann. Dem Staat, der ihn ausspioniert? Oder den Tech-Giganten, die massenhaft Daten über ihn sammeln? Apple versucht diesem manifesten Misstrauen mit dem Mantra zu begegnen: "Ihr müsst nur unserer Mathematik trauen!" Den Codes wächst damit eine grundrechtsgleiche Qualität zu. Sind die Codes robust genug, sind sie vor dem Zugriff des Staats geschützt. Der Technologiekonzern wird zum Treuhänder der Daten. Apple hat mit seiner Weigerung einen Präzedenzfall geschaffen. Egal, wie die Entscheidung ausgeht, ob Apple gerichtlich gezwungen wird, Hintertüren in seine Software einzubauen, oder sich auf das First Amendment berufen kann – es scheint, als hätten die Codes das letzte Wort.