“Sklavinnenmarkt mitten in unserer Gesellschaft“

  10 Juni 2016    Gelesen: 783
“Sklavinnenmarkt mitten in unserer Gesellschaft“
Mit einem neuen Gesetz will der Bundestag Ausbeutung und Menschenhandel besser verfolgen und bestrafen. Dazu müssten die Opfer aussagen. Doch die haben Angst. "Und das zu Recht", sagt eine Expertin.
Ginge es nur nach dem Lagebericht des Bundeskriminalamtes (BKA), könnte man meinen, dass Menschenhandel kein großes Thema ist in Deutschland. Gerade einmal 392 Verfahren weist das aktuellste "Bundeslagebild Menschenhandel" aus, ermittelt wurden für das Jahr 2014 insgesamt 507 Tatverdächtige und 557 Opfer. Doch die Zahlen spiegeln bei Weitem nicht die von Fachleuten vermutete Dimension des Menschenhandels wider.

"Es wird von einem großen Dunkelfeld ausgegangen", hebt allerdings die BKA-Kriminaloberätin Helga Gayer hervor in ihrer Stellungnahme für die Expertenanhörung des Rechtausschusses zu dem von Justizminister Heiko Maas (SPD) vorgelegten Gesetzentwurf zum Menschenhandel.

In der Praxis scheitert, wie Gayer deutlich macht, die Strafverfolgung vor allem an einem Punkt: Die Ermittler sind auf die Aussage der Opfer angewiesen. Doch die stehen sehr häufig unter enormem Druck. "Sind die Eltern, der Ehepartner oder die Kinder im Herkunftsland mit dem Leben bedroht, wird eine Person, die hier unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten muss, aus Angst nicht aussagen", erklärt die Beamtin.

Opfer sagen nicht gegen ihre Familien aus

Gayer weist auch darauf hin: Insbesondere Täter und Opfer aus Osteuropa stammen häufig aus Klanstrukturen; junge Frauen, die etwa zum Zweck der sexuellen Ausbeutung nach Deutschland gebracht würden, sind "seit der Kindheit gewohnt, den Anweisungen im Rahmen der Hierarchie Folge zu leisten": Diese Frauen würden "grundsätzlich nicht gegen ihre Familie, ihren Bruder, ihren Onkel oder andere nahe Verwandte aussagen." Das Gleiche gilt demnach für Arbeitsmigranten, die ausgebeutet werden.

Mit dem Gesetz soll nun entsprechend einer EU-Richtlinie die Strafbarkeit von Menschenhandel ausgeweitet werden. In Zukunft könnten nicht nur Zwangsprostitution, Sklaverei und Zwangsarbeit bestraft werden, sondern auch das Einschleusen von kriminellen Diebes- und Bettlerbanden. Auch das Einschleusen von Menschen für den Organhandel ist künftig Menschenhandel. Er gilt derzeit nur als "Beihilfe zu Straftaten nach dem Transplantationsgesetz".

Neue Straftatbestände sind die "Ausbeutung der Arbeitskraft" und "Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung". Erstmals müssen auch Freier mit Strafen rechnen, wenn sie die Dienste von Zwangsprostituierten in Anspruch nehmen.

Das Bundeskriminalamt verspricht sich von dem neuen Gesetz durchaus eine Grundlage, um Menschenhandels- und Ausbeutungsdelikte besser verfolgen zu können – gerade weil vor dem Hintergrund der Flüchtlingswelle noch mehr Personen "in vulnerabler Position" auf den Arbeitsmarkt drängen, wie Gayer meint. Sie befürchtet dennoch, dass auch in der Zukunft zu viel von der Aussage des Opfers abhängt. Diese Schwachstelle müsse noch beseitigt werden.

"Sie haben Angst. Und das zu Recht"

In dieselbe Kerbe schlägt die Sachverständige Sabine Constabel, die seit 25 Jahren als Sozialarbeiterin Prostituierte berät. Sie hält die vorgesehenen Strafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren für viel zu niedrig, um etwa Zwangsprostituierte vor ihren Zuhältern zu schützen. "Die Frauen machen keine wahrheitsgemäßen Aussagen, wenn sie wissen, dass die Täter weiterhin in Freiheit sind und sie oder ihre Familien unter Druck setzen können", stellt Constabel fest. "Sie haben Angst. Und das zu Recht."

Leider finde sich auch im neuen Entwurf kein Passus, der sich auf objektive Kriterien bei der Beweisführung beschränke. Die Expertin: "Deshalb muss alles getan werden, dem Opfer die Aussage zu erleichtern – und dazu gehört nun mal auch der Schutz vor dem Täter."

Laut Constabel sind in der Prostitution inzwischen zu 80 Prozent Ausländerinnen tätig, Zigtausende Armuts- und Zwangsprostituierte, die "jeden Tag psychisch und physisch zerstört" würden: "Mitten in unserer Gesellschaft besteht ein Sklavinnenmarkt, der an Grausamkeit nicht mehr zu überbieten ist." Viele dieser jungen Frauen sind Opfer von "Loverboys". "Sie greifen sie sich aus Kinderheimen, versprechen ihnen Liebe – und werfen sie dann auf den Prostitutionsmarkt", erläutert Constabel.

Die Umsetzung von Opferrechten spiele faktisch keine Rolle

Auf die Praktiken, die dort von ihnen verlangt würden, sind sie überhaupt nicht vorbereitet. Im Übrigen haben der Sachverständigen zufolge die immer extremer werdenden Wünsche der Freier dazu geführt, dass nur noch sehr wenige deutsche Frauen in der Prostitution zu finden sind. Constabel fordert deshalb, die Zwangsprostitution in einem eigenständigen Paragrafen des Sexualstrafrechts zu behandeln – und nicht mit Straftatbeständen wie der organisierten Zwangsbettelei gleichzusetzen.

Der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel (KOK) begrüßt in seiner Stellungnahme, dass jetzt auch Ausbeutungsformen wie die Ausnutzung erzwungener Straftaten oder erzwungene Betteltätigkeit künftig als Menschenhandel erfasst werden sollen. Allerdings spiele die Umsetzung von Opferrechten faktisch keine Rolle. Menschenhandel könne letztlich nur bekämpft werden, wenn die Betroffenen geschützt und unterstützt würden, sagt KOK-Geschäftsführerin Naile Tanis und empfiehlt: "Sie müssen Zugang zum Recht haben und ihren Anspruch auf Entschädigung und Lohn durchsetzen können."

Die Grünen gehen auf diese Forderung ein und schlagen in einem eigenen Gesetzentwurf einen Fonds für Härteleistungen an Opfer von Menschenhändlern vor – verwaltet vom Bundesamt für Justiz. Die finanzielle Unterstützung soll als einmalige Kapitalleistung "aus Billigkeit" gewährt werden: "Sie ist als Akt der Solidarität des Staates und seiner Bürger mit den Betroffenen zu verstehen; zugleich soll mit ihr ein deutliches Zeichen für die Ächtung von Menschenhandel gesetzt werden."

Quelle : welt.de

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