Darum fliehen Nordafrikaner aus ihrer Heimat

  17 Juni 2016    Gelesen: 522
Darum fliehen Nordafrikaner aus ihrer Heimat
Folter in Gefängnissen, Korruption, Verfolgung kritischer Journalisten – trotzdem will die Bundesregierung Marokko, Tunesien und Algerien zu sicheren Herkunftsstaaten erklären. Das ist umstritten.

Sind Marokko, Algerien und Tunesien sichere Herkunftsländer? Nachdem der Bundestag diese Frage Mitte Mai bejaht hat, ist im Bundesrat noch keine klare Mehrheit erkennbar. Die große Koalition kann sich bei der zunächst verschobenen Abstimmung lediglich 20 Stimmen sicher sein – 35 sind nötig. Die Parteien der Bundesregierung versprechen sich davon schnellere Asylverfahren und eine Entlastung der Behörden.

Die Debatte gewinnt durch einen vertraulichen Bericht des Bundeskriminalamts (BKA), der der "Welt" vorliegt, an Brisanz: Während Menschen aus den Maghreb-Staaten lediglich 2,7 Prozent der Zuwanderer in Deutschland stellen, war laut diesem Bericht ein Viertel von ihnen Anfang 2016 als Tatverdächtige in Kriminaldelikte verwickelt.

Schwerpunkt sind Diebstahldelikte, gefolgt von Vermögens- und Fälschungsdelikten. Das BKA zählte im ersten Quartal 2016 bei Straftaten 67.150 Tatverdächtige, die aus dem Ausland gekommen sind. Allein 16.858 Tatverdächtige davon stammen aus den drei nordafrikanischen Ländern.

Marokko

Als Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Februar dieses Jahres durch die Maghreb-Staaten reiste, zeigten sich sowohl Marokkos Innenminister Mohammed Hassad als auch Regierungschef Abdelilah Benkirane überzeugt: Marokko ist ein sicheres Herkunftsland.

Doch gerade die deutsche Opposition bezweifelt das: So soll es regelmäßig Verstöße gegen die Presse- und Meinungsfreiheit geben, einige Geständnisse von Angeklagten seien laut einer Arbeitsgruppe der UN mithilfe von Folter zustande gekommen. Dazu kommt der Konflikt um die Westsahara, wo die sogenannte sahrawische Befreiungsorganisation Polisario mithilfe militärischer sowie finanzieller Unterstützung Algeriens für einen unabhängigen Staat kämpft. Doch der Konflikt ist längst kein Anlass mehr, der Tausende von Menschen in die Flucht nach Algerien oder sogar nach Europa treibt. Im Gegenteil: Sahrawis ziehen vorwiegend aus der Westsahara in den Norden Marokkos, nach Tanger, Casablanca oder Rabat. Dort eröffnen sie Läden und Firmen mit ihrem guten Ruf als erfolgreiche Geschäftsleute.

Früher war Spanien das klassische Auswanderungsland für Marokkaner. Denn Arbeit in Marokko zu finden ist gerade für die junge Generation sehr schwierig – vor allem, wenn sie vom Lande kommen. Aber auch in den Städten rutschen noch immer viele Jugendliche durch das soziale Raster. Nach der Wirtschaftskrise in Spanien führt für viele junge Marokkaner der Weg weiter nördlich nach Europa, genauer gesagt nach Deutschland.

Marokkaner, die hier einen Asylantrag stellen, haben kaum Chancen, diesen bewilligt zu bekommen. Die Schutzquote, also der Anteil der Flüchtlinge, denen Asyl gewährt wurde, betrug im Jahr 2015 3,7 Prozent – und ist damit immer noch die höchste unter den Maghreb-Staaten. Es gibt Berichte, dass marokkanische Flüchtlinge ihren Pass wegen der geringen Aussicht auf Asyl in Deutschland wegwerfen und sich als Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien ausgeben. Das soll mithilfe von biometrischen Daten verhindert werden. Insgesamt kamen zwischen Januar 2015 und März 2016 13.922 Marokkaner nach Deutschland – beinahe die Hälfte (48,48 Prozent) soll laut dem BKA-Bericht kriminell aufgefallen sein.

Algerien

In Algerien sind ökonomische Faktoren ebenfalls der Hauptgrund für junge Leute, um nach Europa zu emigrieren. Der gesunkene Ölpreis auf dem Weltmarkt hat die schon angeschlagene Wirtschaft zusätzlich getroffen, zudem beklagen sich Algerier über die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft. Mitglieder weniger Familienclans missbrauchen ihre Posten in Politik und Administration, um Verwandten und Bekannten zu lukrativen Geschäften zu verhelfen.

Bei Protestveranstaltungen werden zwar immer wieder Demonstranten verhaftet, aber es findet keine systematische Verfolgung statt, die Zehntausende ins Gefängnis bringen würde. Damit hat sich einiges seit der Zeit von 1991 bis 2000 geändert, als die algerische Armee einen blutigen Bürgerkrieg gegen die Islamische Heilsfront (Fis) führte – bis zu 150.000 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Der Ausnahmezustand wurde erst 2011 aufgehoben, die Zahl islamistischer Anschläge ist mittlerweile deutlich zurückgegangen.

Algerische Flüchtlinge kommen vor allem aus verarmten Gebieten auf dem Land oder aus den Vororten der Großstädte. Ohne ausreichende Ausbildung haben sie in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance, gut bezahlte Jobs zu bekommen. Sie schließen sich mit Freunden oder in Gangs zusammen, um meist über Drogenhandel schnelles Geld zu verdienen. Im 1. Quartal 2016 wurden in Deutschland 7986 Tatverdächtige aus Algerien von der Polizei ermittelt, von Januar 2015 bis Ende März 2016 kamen 17.718 Flüchtlinge. Die Kriminalitätsrate liegt folglich bei 45,07 Prozent.

2015 lag die Anerkennungsquote für Asylbewerber bei 1,7 Prozent. Die algerische Regierung hatte sich zwar dazu bereit erklärt, Flüchtlinge zurückzunehmen, "die wirklich Algerier sind und keine Bleibeperspektive haben", sagte Bundesinnenminister de Maizière Ende Februar. Ein Problem sei laut de Mazière jedoch, dass Algerien im Gegensatz zu Marokko nicht über so umfassende Datenbanken mit Fingerabdrücken seiner Staatsbürger verfügt, um die Identität von Flüchtlingen zu klären.

Tunesien

Die Revolution von 2011 hat in Tunesien alles verändert: Nach über 25 Jahren Diktatur gab es endlich wieder demokratische Verhältnisse mit Meinungs- und Pressefreiheit. Gleichzeitig erlitt die Wirtschaft des Landes einen heftigen Dämpfer. Terrorattentate im Bardo-Museum von Tunis und am Badestrand von Sfax brachten den Tourismus beinahe ganz zum Erliegen, dabei sind Feriengeschäfte eine der Haupteinnahmequellen Tunesiens. Alleine von Januar bis April fiel die Übernachtungsrate um 48 Prozent. Als Folge der wirtschaftlichen Misere stieg die Arbeitslosigkeit, besonders unter den jungen Menschen.

Perspektivlosigkeit und Unzufriedenheit treiben viele Tunesier nach Europa. Allerdings gibt es für sie in der Regel kaum Gründe, um politisches Asyl in Deutschland zu beantragen. Im nordafrikanischen Land könnten höchstens radikale Islamisten behaupten, sie würden systematisch verfolgt. Tunesische Salafistenorganisationen waren mehrfach für gewalttätige Demonstrationen verantwortlich, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verübte Mordanschläge. Die Sicherheitsbehörden gehen mit aller Härte gegen die extremistischen Gruppierungen vor, und das wohl nicht immer im legalen Rahmen.

Aus Tunesien kommen unter den Maghreb-Staaten die mit Abstand wenigsten Flüchtlinge: 2531 Tunesier wurden von Januar 2015 bis März 2016 registriert. Die Schutzquote lag bei 0,2 Prozent und ist damit die niedrigste unter der Maghreb-Staaten; einer von 500 Tunesiern, der Asyl beantragt, bekommt dieses auch gewährt. Die Bundesregierung einigte sich Anfang des Jahres mit Tunesien auf ein Pilotprojekt, laut dem Tunesier in bereitgestellten Chartermaschinen zurückgebracht werden sollen, Deutschland stellt die begleitenden Polizisten und übernimmt die Kosten.

In einer Statistik sind Flüchtlinge aus Tunesien in Deutschland zumindest prozentual traurige Spitzenreiter: 2122 kriminelle Tunesier wurden in den ersten drei Monaten 2016 identifiziert. Gemessen an den Zuwanderungszahlen entspricht das einem Anteil von 83,84 Prozent.

Quelle: welt.de


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