Falsch informiert, emotional verunsichert

  23 Juni 2016    Gelesen: 451
Falsch informiert, emotional verunsichert
Die Briten wurden in den letzten sechs Monaten mit politischem Getöse in zwei Lager gespalten. Können sie nach diesem Wahlkampf eine gut überlegte Entscheidung treffen?
Bill will bleiben. Judith auch. Sarah will gehen, genau wie Duncan. Und Zoë weiß nicht was besser ist: gehen oder bleiben. Brexit oder nicht. Heute entscheiden die Briten, ob sie aus der EU austreten. Wie das Referendum ausgehen wird ist auch jetzt noch vollkommen ungewiss. Die Europafrage hat Großbritannien entzweit. In den jüngsten Umfragen erreichen die Brexit-Befürworter 44 Prozent, die Gegner 42 Prozent. Neun Prozent sind unentschieden. Alles hängt davon ab, wo sie heute ihr Kreuz machen.

Der Wahlkampf war besonders hässlich. Austreter und Drinbleiber lieferten sich einen hysterischen Schlagabtausch apokalyptischer Vorhersagen, mit denen die gegnerische Position mindestens als unverantwortlich, wenn nicht als gemeingefährlich dargestellt wurde. Premierminister David Cameron, der in der EU bleiben will, prophezeite, dass dem Land beim Austritt "der wirtschaftliche Niedergang" bevorstehe, inklusive Arbeitslosigkeit, Inflation und "einer schwindenden Bedeutung in der Weltwirtschaft". Dagegen warnte Londons ehemaliger Bürgermeister Boris Johnson davor, dass die Briten bald tatenlos zuschauen müssten, wenn "mehrere Millionen Ausländer nach Großbritannien ziehen und den Sozialstaat belasten, weil die EU es ihnen erlaubt".

Jedes Kind weiß, dass Ereignisse in der Zukunft nicht als Fakten dargestellt werden können. Was als Nächstes passiert, kann man nur vermuten. Die Brexit-Diskussion erschien bisweilen wie ein Affront gegen die Prinzipien eines demokratischen Systems. Und das ausgerechnet in dem Land, das sich als Gründer der modernen Volksherrschaft versteht.
Das Gehirn verarbeitet neue Eindrücke erst emotional, dann rational

Zu den Pflichten demokratisch gewählter Politiker gehört es, die Menschen aufzuklären, zu überzeugen, sie bei der rationalen Entscheidungsfindung zu unterstützen. Stattdessen wurden die Briten in den letzten sechs Monaten falsch informiert und emotional verunsichert. Für den Zyniker war es ein Spektakel, das alle Vorurteile von selbstsüchtigen Politikern bestätige. Mit ihrem emotionalen Getöse könnten Cameron und Johnson allerdings ihren Zweck erreicht haben. Die Wissenschaft hat nämlich nachhaltig bewiesen, dass unser Verstand in der Wahlkabine nur bedingt zum Einsatz kommt. Ohne es zu wissen, werden wir von unseren Gefühlen gelenkt.

Das hat einen einfachen Grund: "Unser Gehirn verarbeitet neue Eindrücke erst emotional und dann rational", erklärt die Gehirnforscherin Jennifer Lerner von der Universität Harvard. "Wir fühlen, bevor wir denken." Als demokratischer Souverän verhalten wir uns deshalb, als würden wir ein Paar Turnschuhe kaufen. Der Verhaltensforscher Nick Chater von der Universität Warwick erklärt das so: "Vor jeder Kaufentscheidung, ob im Supermarkt oder beim Makler, steht der innere Konflikt zwischen Zugreifen und Liegenlassen. Bei seiner Auflösung werden rationale Faktoren meistens von Emotionen übertrumpft", sagt Chater. Die Werbung weiß das freilich schon lange. Im Zweifel brauchen wir natürlich nicht noch ein weiteres Paar Turnschuhe, aber egal. Die Marke ist cool. Die Schuhe unterstreichen unsere Persönlichkeit. Wir kaufen wider die Vernunft, weil es uns guttut.

"Politik funktioniert genauso", sagt Nick Chater. "Die apokalyptische Rhetorik von Cameron und Johnson soll die Wähler auf unterschiedliche Weise emotional erreichen." Die Brexit-Gegner mahnen zur Vorsicht. "Der Austritt steckt voller Gefahren", beteuert der Premierminister. Für Europa zu stimmen sei "die einzig vernünftige Entscheidung". Dagegen konzentrieren sich die Brexit-Befürworter auf die missmutigen Wähler. Sie machen die EU zum Sündenbock und erklären den Austritt zur magischen Formel.

Angst und Wut. Bei den Unentschlossenen halten sich diese beiden Gefühle die Waage. Das bedeutet aber nicht, dass diese Wählergruppe aus rationaleren Demokraten besteht. Wie sie entscheiden, hängt von Faktoren ab, die niemand kontrollieren kann. Das Wetter zum Beispiel. Cameron muss auf Regen hoffen, denn laut einer Studie der Universität North Carolina verringert schlechtes Wetter unsere Risikobereitschaft. Wer klitschnass im Wahllokal ankommt, entscheidet sich also eher gegen den Brexit. Zu viel Regen ist allerdings auch nicht gut, denn Wahlforscher in Holland haben herausgefunden, dass die Wahlbeteiligung pro 25 mm Niederschlagsmenge um ein Prozent sinkt.

Sonnenschein hat auch was für sich. Das hebt die Stimmung. Genau wie der bisherige Verlauf der Fußballeuropameisterschaft für die Engländer zur allgemeinen Zufriedenheit beiträgt und die Tatsache, dass nächste Woche Monatsende ist, mithin Zahltag. "Wer sich seine Meinung schon gebildet hat, wird durch diese positiven Einflüsse bestärkt", sagt Chater. "Aber wer noch unsicher ist, wird durch gute Laune eher dazu verleitet, für den Status quo zu stimmen", vorausgesetzt das Wahllokal stimmt. Wissenschaftler von der Oklahoma State University haben nämlich nachgewiesen, dass wir im Schatten der Kirche eher konservativ wählen. Je mehr Gemeindehäuser heute zum Wahllokal umfunktioniert werden, desto besser also für die Brexit-Anhänger.

Winston Churchill beschrieb die Demokratie als "die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen". Er konnte nicht wissen, wie recht er hatte.


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