Das sind die fünf Szenarien für den Exit vom Brexit

  30 Juni 2016    Gelesen: 820
Das sind die fünf Szenarien für den Exit vom Brexit
Auf der Insel wachsen die Reue nach dem Brexit und die Sehnsucht, das Votum rückgängig zu machen. Doch wie könnte das gehen – und wie wahrscheinlich ist der Ausstieg vom EU-Ausstieg?
Angela Merkel lässt derzeit keine Zweifel aufkommen: Großbritannien wird die Europäische Union verlassen. "Dies ist nicht die Stunde von ,wishful thinking`" – von Wunschdenken also, sagte die Bundeskanzlerin beim EU-Gipfel in Brüssel. "Das Referendum steht da als Realität."

Auch andere EU-Regierungschefs betonten, dass "out" wirklich "out" bedeute. Die klare Kante wird nicht nur aus verletztem Ehrgefühl und Rachegelüsten gegenüber den Briten gefahren, sondern auch, um ein deutliches Signal an andere EU-Länder zu senden, in denen die Europaskepsis auf dem Vormarsch ist.

Während sich in Großbritannien erst so langsam die Erkenntnis durchsetzt, was dieses Votum tatsächlich bedeutet, sprechen die Börsen eine klarere Sprache. Die Kurseinbrüche sind deutlich. In London und anderswo spielen deshalb Strategen hinter den Kulissen verschiedene Optionen durch, wie der Brexit oder seine Folgen doch noch abgefedert werden könnten. Eine Übersicht.

Szenario 1: Mitgliedschaft light und zweites Referendum

Allen gegenläufigen Beteuerungen zum Trotz lassen sich die EU-Staaten auf einen weitreichenden Kompromiss ein. London bekommt die ultimative Sonderbehandlung: Das Prinzip der Personenfreizügigkeit gilt weiter, wird im britischen Fall aber ganz strikt gehandhabt. Nur ein EU-Ausländer, der einen Job in Großbritannien nachweisen kann, darf sich niederlassen. Der Zugang zum Binnenmarkt bleibt.

Genau dieses Szenario hatte Boris Johnson angestrebt, als er nach seinem Outing als Brexit-Anhänger Mitte Februar von einem zweiten Referendum sprach. "Sie hören einem Volk nur zu, wenn es Nein sagt", so die Überzeugung des Torys. Bietet Europa einen besseren Deal, könnte eine Mehrheit bei einem zweiten Referendum schließlich doch noch Ja zur EU sagen.

Ganz besonders die deutsche Regierung hat großes Interesse, die Briten an Bord zu halten, will sie nicht als vermeintlich einzige Großmacht im Klub wachsende Aversionen der anderen auf sich ziehen. Außerdem würde es auch die deutschen Steuerzahler beruhigen, wenn die Briten blieben. Die Befürchtungen in Deutschland wachsen, dass die Bundesrepublik als einzig solventer Zahlmeister zurückbleibt in der EU.

Politisches Risiko: gewaltig. Die EU würde damit eines ihrer Grundprinzipien (Personenfreizügigkeit) für einen einzelnen Staat aufgeben. Die Nachahmer stünden sofort auf dem Plan, damit wären der Zusammenhalt und die Basis des europäischen Projekts gefährdet.

Szenario 2: Das Parlament stoppt den Ausstieg

"Referenden sind eine absurde Art, einen modernen Staat zu führen", sagt Kenneth Clarke, Tory-Urgestein und seit 46 Jahren im Unterhaus. So sehen es nicht nur viele seiner Kollegen, auch rechtlich hat das Referendum keine Gültigkeit. Es ist lediglich "advisory", beratend.

Rund 70 Prozent der 650 britischen Abgeordneten wollen EU-Mitglied bleiben. Und sie müssen ihr grünes Licht für den Trennungsprozess geben. Einige Juristen sind sogar der Meinung, dass der nächste Premier vom Scheidungsartikel 50 des EU-Vertrags ohne Plazet des Parlaments gar keinen Gebrauch machen darf. Es ist ganz im Sinne des Unterhauses, dass der Trennungsprozess jetzt langsam vonstattengeht und den Brexit-Wählern so die Folgen ihres Tuns dämmern.

Natürlich können die Parlamentarier als Hort der britischen Demokratie das Votum nicht ignorieren. Andererseits: Tatsächlich haben insgesamt nur 25 Prozent der Bevölkerung für den Ausstieg gestimmt – die Abgeordneten könnten sich also zu Recht fragen, ob sie eine derart niedrige Zustimmung überhaupt absegnen wollen. Zumal mehrheitlich die ältere Generation für den EU-Austritt stimmte, obwohl sie die Folgen gar nicht mehr ausbaden muss.

Risiko: enorm. Zwar mag in den kommenden Wochen die Zahl der reuigen Brexit-Wähler wachsen. Doch ignorierte das Parlament das Votum tatsächlich, würde dies die Entfremdung zwischen Bürgern und "denen in Westminster" nur noch befeuern. Ukip und andere Anti-Establishment-Gruppen profitierten schon bei der nächsten Wahl.

Szenario 3: Schottland sprengt den Brexit-Fahrplan

Die Parlamente in Wales, Nordirland und die Schotten müssen grünes Licht für den EU-Ausstieg geben – und Edinburgh wird dieses ganz sicher nicht tun. 62 Prozent der Schotten haben gegen den Brexit gestimmt. "Unser Abgeordnetenhaus wird nicht für etwas stimmen, was nicht im schottischen Interesse liegt", hat die Erste Ministerin Nicola Sturgeon mehrfach betont.

Allerdings streiten Verfassungsrechtler, ob die Schotten tatsächlich ein Veto haben oder nur ihr Einverständnis verweigern können. In jedem Fall haben die Nationalisten aber genug Macht, um die anschließende Umsetzung eines EU-Austritts zu unterminieren.

Risiko: groß, weil die Folgen des Konflikts mit Schottland ohnehin für das Vereinigte Königreich schwerwiegend sind. Der heftigen Konfrontation zwischen London und Edinburgh kann die künftige britische Regierung irgendwann nur noch mit dem Zugeständnis eines neuen Unabhängigkeitsreferendums begegnen. Je mehr Zeit vergeht und der Unmut der Schotten über den Schwebezustand wächst, umso größer sind die Chancen, dass die Nationalisten beim zweiten Mal nach September 2014 ihr "Yes" bekommen.

Szenario 4: Labour gewinnt Neuwahl

Die größte Oppositionspartei Labour im britischen Parlament ist in der großen Mehrheit immer für den Verbleib in der EU gewesen. Darin unterscheidet sich die Partei stark von ihrer Wählerschaft. Es waren die Labour-Stammwähler, die neben den euroskeptischen Tories und den Europahassern von Ukip für das Abstimmungsergebnis gesorgt haben.

Jetzt versucht die Parteispitze das Wendemanöver: Seit dem Morgengrauen des 24. Juni kämpft die große Mehrheit der Labour-Abgeordneten mit harten Bandagen gegen Parteichef Jeremy Corbyn, der sich im Wahlkampf nicht gerade als leidenschaftlicher Vorkämpfer eines Verbleibs in der EU hervorgetan hatte. Einem überwältigenden Misstrauensvotum am Dienstag hat sich der Linksaußen-Politiker nicht gebeugt, aber seine Gegner könnten eine Urwahl erzwingen.

Kommt es dann spätestens 2017 zu Neuwahlen und ginge Labour mit einem klar proeuropäischen Kandidaten hinein, könnte der Brexit passé sein. Aber um die Wahl zu gewinnen, müsste auch Labour in sein Wahlprogramm scharfe EU-Forderungen wie den Zuwanderungstopp von EU-Arbeitnehmern aufnehmen und ein neues EU-Referendum ansetzen.

Ohne eine Zusicherung über die Einschränkung der Freizügigkeit wären die Stammwähler nicht zu überzeugen – die Angst davor, dass ihnen besser ausgebildete EU-Arbeitnehmer die Jobs wegnehmen, war einer der Hauptgründe für ihr Überlaufen ins Brexit-Lager.

Wahrscheinlichkeit: gering. Corbyn hat die Unterstützung der Parteibasis, er wird nicht so einfach zu stürzen sein. Und Labour liegt derzeit in den Umfragen klar hinter den Konservativen. Auch fehlt es der Partei an charismatischen Führungsfiguren.

Szenario 5: Zweites Referendum schon jetzt?

Mehr als vier Millionen britische Bürger haben eine Petition unterschrieben, die eine neue Abstimmung fordert. In London demonstrierten am Dienstagabend Tausende für die britische EU-Mitgliedschaft. Aber der Protest konzentriert sich auf die Weltstadt London, die ohnehin für "Remain" war. Und den Unterzeichnern stehen 17,4 Millionen Brexit-Anhänger gegenüber.

Quelle : welt.de

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