Grenzpolitik: Ungarn will Flüchtlinge stärker abschrecken

  06 Juli 2016    Gelesen: 360
Grenzpolitik: Ungarn will Flüchtlinge stärker abschrecken
Mehr Polizei, bessere Ausrüstung und schärfere Regeln - die ungarische Regierung will Migranten mit Nachdruck fernhalten. Doch tatsächlich werden Elendslager an der Grenze anschwellen.

Sie kampieren im Dreck vor dem Stacheldrahtzaun. In kleinen Zelten, unter Decken oder einfach unter freiem Himmel. Einmal am Tag verteilen Polizisten Brot, Fischkonserven und Trinkwasser. Manchmal dürfen private Helfer Windeln, Medikamente oder Babynahrung bringen. Es gibt einen Wasserhahn. Nach mehreren Monaten haben Behördenmitarbeiter drei mobile Toiletten aufgestellt.


Das Elendslager vor der sogenannten Transitzone neben dem ungarisch-serbischen Grenzübergang Röszke-Horgos: Hier warten Hunderte Flüchtlinge darauf, dass sie in einer der Blechbaracken hinter dem Stacheldrahtzaun einen Asylantrag stellen können. Täglich werden jedoch nur 15 bis 20 Menschen in die Transitzone eingelassen. Manche harren wochenlang aus, bis sich die eiserne Zugangsschleuse für sie öffnet.

Schon in den nächsten Tagen könnte die Zahl der Wartenden hier und vor einer baugleichen Transitzone vierzig Kilometer weiter westlich auf einige Tausend ansteigen. Damit entstünden Elendslager vom Ausmaß des griechischen Idomeni, das im Mai geräumt wurde. Denn Ungarn hat zu Wochenanfang eine neue Offensive gegen Migration und Zuwanderung gestartet und seine ohnehin restriktive Flüchtlings- und Asylpolitik noch einmal verschärft. Das Ziel: noch mehr Abschreckung gegen Flüchtlinge.

Am Dienstag führte die Regierung des Ministerpräsidenten Viktor Orbán eine sogenannte Tiefen-Grenzsicherung ein:

Flüchtlinge, die an der ungarisch-serbischen oder ungarisch-kroatischen Grenze in einem acht Kilometer breiten Streifen landeinwärts aufgegriffen werden und denen kein strafbarer Grenzübertritt nachgewiesen werden kann, werden von Polizisten wieder zurück vor den Grenzzaun eskortiert und dort angewiesen, in den Transitzonen Röszke-Horgos oder Tompa Asyl zu beantragen.

Möglich ist die Rückeskortierung von Flüchtlingen, weil Ungarn seine Grenzzäune einige Meter hinter dem offiziellen Grenzverlauf gebaut hat. Formal findet keine Abschiebung statt.

Außerdem verstärkt Ungarn den Grenzschutz massiv. Statt wie bisher etwa 3000 bis 4000 Soldaten und Grenzpolizisten werden künftig 6000 bis 10.000 das Grenzgebiet zu Serbien und Kroatien sichern. Auch die Ausrüstung der Grenzschützer mit Fahrzeugen, Wärmebildkameras und anderen Geräten wird aufgestockt.

Die neuen Grenzschutzmaßnahmen sind eine Reaktion auf die in den vergangenen Monaten deutlich gestiegenen Flüchtlingszahlen. Im ungarisch-serbischen Grenzgebiet werden täglich bis zu 250 Flüchtlinge aufgegriffen. Seit Jahresanfang waren es insgesamt rund 17.500 Personen.

Bisher kamen diejenigen, denen das Übertreten oder Beschädigen des Grenzzauns nicht direkt nachgewiesen werden konnte, in Aufnahmelager und konnten von dort aus meist nach kurzer Zeit weiter Richtung Westen reisen.

Selbst für verurteilte "Grenzverletzer" - in Ungarn wurden seit September letzten Jahres knapp 5000 Flüchtlinge wegen illegalen Grenzübertritts zu Abschiebung und Einreiseverboten verurteilt - war es meist vorteilhafter, Ungarn illegal zu betreten, als wochenlang vor der Transitzone zu warten. Denn da Ungarn verurteilte Flüchtlinge praktisch kaum abschieben kann, weil sie keine Personaldokumente besitzen und Serbien keine Flüchtlinge zurücknimmt, kamen sie ebenfalls in Aufnahmelager und konnten von dort bald weiterreisen.

"Das kommt einer Abschiebung ziemlich nahe"

Diese Praxis will Ungarn nun beenden. Die Regierung will die "Effektivität der Kontrollen im Grenzstreifen erhöhen". Ziel sei, dass niemand Ungarn illegal betrete.

Praktisch jedoch wird die Grauzone der ungarischen Flüchtlingspolitik erneut ein Stück größer, kritisieren Bürgerrechtler. "Flüchtlinge werden auf ungarischem Territorium ohne die Möglichkeit eines Asylverfahrens und ohne jegliche Dokumentation zurück an die Grenze eskortiert, wo sie unter inhumanen Bedingungen eine willkürlich lange Zeit ausharren müssen, um Asyl zu beantragen", sagt Márta Pardavi, die Co-Vorsitzende des ungarischen Helsinki-Komitees. "Das kommt einer zumindest zeitweisen Abschiebung ziemlich nah."

Referendum gegen EU-Politik am 2. Oktober

Gegen Ungarn läuft seit Dezember 2015 wegen der verschärften Flüchtlings- und Asylpolitik bereits ein EU-Vertragsverletzungsverfahren. Die Brüsseler EU-Kommission bemängelt unter anderem die Schnelljustiz gegen Flüchtlinge, aber auch die restriktiven Asylantragsmöglichkeiten. Ungarn sieht darin jedoch keine Verletzung von EU-Richtlinien zur Flüchtlingspolitik.

Nachfragen von SPIEGEL ONLINE zu den neuen Grenzschutzmaßnahmen, etwa, ob die Aufnahmekapazität in den Transitzonen erhöht oder die Bedingungen für wartende Flüchtlinge verbessert würden, wollten Sprecher der ungarischen Regierung, der Grenzpolizei und der Einwanderungsbehörde BÁH nicht beantworten.

Orbáns Kabinettschef Antal Rogán verkündete am Dienstag vor der Presse jedoch stolz: Man habe in der Nacht bereits 122 Flüchtlinge im Grenzgebiet gefasst und zur Transitzone eskortiert.

Außerdem wurde der Termin für das ungarische Referendum gegen die EU-Flüchtlingspolitik bekannt gegeben. Am 2. Oktober sollen die Bürger dann auf die Frage antworten: "Wollen Sie, dass die Europäische Union Ungarn auch ohne die Zustimmung des ungarischen Parlamentes die verpflichtende Ansiedlung nicht ungarischer Staatsbürger vorschreiben kann?" Kabinettschef Rogán forderte die Wähler gleich auf, "Nein zur Brüsseler Einwanderungspolitik und zur Zwangsansiedlung zu sagen".

Quelle: spiegel.de

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