Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat scharfe Kritik an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und dessen Vorgehen im Streit über das Ceta-Freihandelsabkommen geübt. Auf Junckers Ankündigung kurz nach dem Brexit-Referendum, das geplante Abkommen mit Kanada ohne Mitsprache der nationalen Parlamente in der EU beschließen zu lassen, reagierte Lammert mit Unverständnis. "Mir ist völlig rätselhaft, wie man ohne Not und just zu diesem Zeitpunkt mit einer Nachricht aufmarschieren konnte, die vollständig ungeeignet war, um verunsicherte EU-Bürger zu beruhigen", sagte Lammert der "Welt am Sonntag".
"Es wurde der übrigens falsche Eindruck erweckt, als solle eine Beteiligung nationaler Parlamente beim Ceta-Freihandelsabkommen mit Kanada sorgfältigst vermieden werden", kritisierte Lammert. "Die Mitwirkung der Bundesregierung beim Inkraftsetzen von europäischen Handelsverträgen ist ohnehin nur mit Zustimmung des Bundestages möglich."
"Brauchen eine Phase des Sondierens und Sortierens"
Lammert sprach sich für eine Vertiefung der europäischen Integration aus. "Ich bin der Überzeugung, dass der europäische Integrationsprozess natürlich nicht zurückgenommen werden darf, sondern fortgesetzt werden muss. Zugleich ist mir klar, dass es selten einen ungünstigeren Zeitpunkt dafür gab als diesen." Was jetzt erforderlich sei, klinge wenig glanzvoll: "Wir brauchen jetzt eine Phase des Sondierens und Sortierens, wenn wir nicht in einem großen spektakulären Akt die Europäische Union in die Luft jagen, sondern zusammenhalten wollen."
Mit Blick auf die Brexit-Entscheidung der Briten lehnt Lammert ab, Volksentscheide auf Bundesebene zuzulassen. "Ich halte Referenden in den meisten Fällen für unnötig." Gelegentlich würden Volksentscheide angesetzt, weil Politiker sich mit Hilfe dieses Instruments aus der eigenen Verantwortung stehlen wollten und eine schwierige politische Entscheidung "aus Hasenfüßigkeit" dem Wähler überließen. "Das trifft sicher auf das Brexit-Referendum in Großbritannien zu."
Den Abgeordneten der schwarz-roten Koalition rät er, künftig eine größere Selbstbehauptung gegenüber der Bundesregierung zu wagen. "Es ist zwar nötig und vernünftig, dass eine parlamentarische Mehrheit die von ihr gewählte Regierung trägt, aber die Parlamentarier sollten gelegentlich gerade gegenüber der von ihnen selbst bestimmten Regierung selbstbewusster auftreten." Damit würden sie den Ansprüchen der Verfassung und vieler Wähler gerecht. Nach dem Grundgesetz seien die Bundestagsabgeordneten Vertreter des gesamten Volkes, allein ihrem Gewissen verpflichtet und an Aufträge und Weisungen gebunden. "Das heißt, nach ihrer Wahl sind sie streng genommen weder Vertreter ihrer Partei noch ihres Wahlkreises", sagte Lammert. "Nimmt man das wirklich ernst, könnten die Parlamentarier mehr Souveränität zeigen."
Quelle: welt.de
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