Und dann gibt es den Wismarplatz. Knapp tausend Leute im schwarzen Einheitslook stehen herum. Viel Leder, viele Piercings, viele grüne Haare, viel Bier. Es ist wie eine Punk-Retronacht. Die Demonstranten wirken inmitten der fröhlichen Jugend eher traurig als bedrohlich.
Doch werden einige von ihnen im Laufe der Nacht Polizisten mit Flaschen und Feuerwerk angreifen, Autos anzünden, Schaufenster einschmeißen, selbst Reizgas und Schlagstöcke abkriegen und am nächsten Morgen vorbereitete Erklärungen gegen den "Bullenterror" ins Netz stellen. Bilanz: 123 verletzte Polizisten, 86 Festnahmen – die Berliner Polizei spricht von der "aggressivsten und gewalttätigsten Demonstration der zurückliegenden fünf Jahre". Und der Rest der Republik wird erschauern: wieder Krawalle in Berlin.
Worum geht es? Kurz gesagt: inzwischen gegen Asylbewerber. Ein früher von Linksextremen illegal als Kneipe genutztes Erdgeschoss in der Rigaer 94 wird unter Polizeischutz umgebaut; es entstehen Wohnungen, in die syrische Flüchtlinge einziehen sollen. Dagegen macht die gewaltbereite Linke mobil. So weit geht die internationale Solidarität denn doch nicht. Die Randalierer von Samstagnacht bilden eine der wenigen Subkulturen, die rein biodeutsch sind, zusammen mit Rechtsextremen, Heimatvertriebenen und dem Verein der Bayern in Berlin.
"Wir sind scheiße wütend!"
Die Randale war programmiert. Denn als Parole für den "Tag X" ist ausgegeben worden: Jede Räumung eines besetzten Hauses soll die Stadt zehn Millionen Euro kosten. "Wir sind scheiße wütend!" heißt es im Aufruf des Kollektivs, das in der Rigaer 94 das Hinterhaus immer noch besetzt hält. "Stürzt Berlin in das Chaos! Lasst es krachen! Wendet out-of-control-Strategien an!"
Damit sind Aktionen kleiner Gruppen gemeint, die jenseits der Hauptdemonstration und der Polizeiabsperrungen Autos abfackeln, Läden angreifen, Wände besprühen. Man sieht sie am Samstagabend herumstehen; auch die Polizei sieht sie, aber was soll sie machen? "Wir sind ja`n Rechtsstaat", sagt der bauchige Biertrinker vor einer der Dönerbuden in der Warschauer Straße. "Die Bullen wissen, det die Leute Remmidemmi wolln, aber einfach uffjreifen jeht nicht. Früher wäre det anders jewesn."
Früher, das heißt: in der DDR. Die Rigaer 94, ein heruntergekommenes Haus mit veralteten Sanitär- und Heizungsanlagen, ist ein Denkmal für die menschenfeindliche Baupolitik des Regimes, die ganze Straßenzüge in der Innenstadt entmietete und die Bewohner in Plattenbausiedlungen steckte. In die verfallenden Wohnungen zogen Besetzer ein, damals DDR-Bürger, die selbstbestimmt leben wollten, nach dem Fall der Mauer auch Anarchisten aus dem Westen, die ein linkes Gegenmilieu etablierten.
"Vor der Wende gehörte ja alles der Stadt. Dann stellte sich heraus: Die Rigaer 94 gehörte früher Juden. Die waren ermordet worden, also wurde das Haus der Jewish Claims Conference übertragen. Die verkauften es einem Spekulanten. Der verkaufte es an eine englische Briefkastenfirma. Und die will nun Flüchtlinge reinsetzen, um die Besetzer zu vertreiben. Hat auch eine private Security-Firma angeheuert, sind alles Araber oder Türken."
Musterbeispiel für Langmut
Da haben wir alle Feindbilder beieinander: Juden und Spekulanten, Steuerhinterzieher, Araber, Türken und Asylbewerber. Der diese Rechnung aufmacht, ist kein Rechtspopulist, sondern ein ehemaliger Bürgerrechtler, der in der Galiläakirche in der Rigaer Straße den Besucher durch das "Jugend(widerstands-)museum" führt. In dieser Erzählung, die so oder ähnlich auch durch das Berliner Juste-Milieu geistert, ist die Rigaer 94 eine letzte Bastion der "linksautonomen Szene", des Widerstands gegen Gentrifizierung und "Luxussanierung".
Das ist aber nicht einmal die halbe Geschichte. Vielmehr ist das Haus ein Musterbeispiel für den Langmut bürgerlicher Politik gegenüber ihren verzogenen Kindern – und dafür, dass in manchen Fällen Langmut nicht weiterhilft. Seit 15 Jahren nämlich wird um das Haus gefeilscht und gekämpft, in dem übrigens nicht nur Besetzer wohnen, sondern auch legale Mieter, die freilich bei den Treffen des Kollektivs nichts zu sagen haben.
Als 2001 einer Räumungsklage gegen die Kneipe "Kad(t)erschmiede" stattgegeben wurde, bot der Senat dem Kollektiv ein Ersatzhaus an. Die Besetzer wollten aber nur umziehen, wenn das neue Haus vorher saniert und ihnen dennoch zu "bezahlbaren" Mieten überlassen würde. Was sie darunter verstehen, kann man daran sehen, dass die gegenwärtigen legalen Mieter etwa 4,50 Euro pro Quadratmeter zahlen – ein Traumpreis in dieser Gegend; die Besetzer aber einen Euro. Warm. Ersatzweise verlangten die Besetzer damals die Überlassung einer leerstehenden Schule.
Das Gerangel zieht sich über Jahre hin, beschäftigt Anwälte, Gerichte und Polizei. Schließlich scheint sich 2013 eine Lösung abzuzeichnen: Die Schweizer Edith-Maryon-Stiftung soll das Grundstück kaufen und das Gebäude den Besetzern in Erbpacht für 99 Jahre überlassen. Bei der Finanzierung soll das Freiburger MietsHäuserSyndikat helfen, das schon etwa 100 solche Projekte unterstützt, darunter auch das Haus Rigaer Straße 78.
So politisch wie die Weigerung, das Zimmer aufzuräumen
Das Syndikat soll auch vertraglich dafür sorgen, dass aus den Häusern keine Spekulationsobjekte werden. Ginge es tatsächlich darum, die Gentrifizierung der Rigaer Straße aufzuhalten und linksalternative Projekte zu ermöglichen, die Besetzer hätten das Angebot annehmen müssen. Sie lehnen ab. Warum?
"Durch das Fehlen des äußeren Druckes käme es zu Nestbautrieb und Schönerwohnen-Aktivitäten", erklärt das Kollektiv. "Wir müssten das Haus grundsanieren, was zusammen mit den Verwaltungsaufgaben viele unserer Kräfte binden würde." Mit anderen Worten: zu viel Arbeit. Das ist etwa so politisch wie die Weigerung eines Pubertierenden, sein Zimmer aufzuräumen, oder sein Wutanfall, wenn die Mutter es dennoch tut.
Im Übrigen erfährt jeder, der sich den Absichten des "Kollektivs" entgegenstellt, mit wem er es zu tun hat. Mieter aus dem Vorderhaus werden bei Versammlungen niedergeschrien. Vermummte dringen in das Büro der Hausverwaltung ein: "Wer eingeschüchtert ist, ist erst mal klar", stellt das Kollektiv befriedigt fest.
Die Hausverwaltung bittet Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann von den Grünen um Vermittlung; sie winkt ab. Derweil weitet das Kollektiv die Kampfzone aus. Autos brennen überall in der Stadt, das Eigentum mutmaßlicher Gegner wird beschädigt. Der Name des angeblich englischen Besitzers – er ist es nicht, wie eine einfache Recherche ergibt, aber das kümmert das Kollektiv nicht – wird in internationalen Anarchistenblogs veröffentlicht. Ein Kontaktbereichsbeamter (im Sprachgebrauch des Kollektivs ein "Streifenschwein") wird im Januar 2013 überfallen und verprügelt.
Als dieser Journalist vor einigen Tagen einen Besuch in der Rigaer Straße ankündigt, wird von einem "Superaktivisten" per Twitter ein Steckbrief mit Fotos abgesetzt. Dennoch ist die Straße morgens um elf friedlich. Ein paar Punks haben ein Sofa auf den "Dorfplatz" – die Kreuzung Rigaer-Ecke Liebigstraße – geschleppt und dösen in der Sonne. Vor der Nummer 94 langweilen sich Security-Leute und Polizisten. In einem Mannschaftswagen liest eine Polizistin "Krieg und Frieden". Über die Straße stakst eine große, junge Frau mit kunstvoll zerrissenen Netzstrümpfen. Am östlichen Ende der Straße sind polnische Bauarbeiter dabei, Townhouses hochzuziehen, in die junge Familien einziehen. Gut, dass die Schule nicht den Besetzern überlassen wurde, sie wird gebraucht.
"Refugees welcome" – aber nicht bei uns
Plötzlich fährt ein Auto vor, heraus steigt eine syrische Familie, die Frauen mit ihren besten Kopftüchern, die Männer etwas eingeschüchtert durch die Polizeipräsenz. Sie hätten einen Mietvertrag, sagt der begleitende Dolmetscher, und wollten sich die Wohnung ansehen. Die Polizei holt einen Vertreter des Kollektivs: Leider dürften sie nicht ins Haus, erklärt er. Aber man könne ihnen "überall in Berlin" alternativen Wohnraum besorgen. Die syrische Familie klettert ins Auto und fährt davon. Willkommenskultur à la Rigaer 94: "Refugees Welcome" – aber nicht bei uns.
Trotz all dieser Erfahrungen beharrt ein Großteil der Lokalpresse auf der Sprachregelung, bei der Rigaer 94 und ihren Unterstützern hätte man es mit "Linksautonomen" zu tun. Die Linkspartei erklärt sich mit dem Kollektiv solidarisch, ebenso wie die Piratenpartei. Die Grünen-Abgeordnete Canan Bayram nutzt jede Gelegenheit, sich auf die Seite des Kollektivs zu stellen, und wirft ausgerechnet der Polizei per Twitter vor, sie "schikaniere" die Anwohner.
Der SPD-Politiker Tom Schreiber steht mit seiner Forderung nach einem harten Durchgreifen der Polizei in seiner Partei allein da; fordert doch der sozialdemokratische Regierende Bürgermeister Michael Müller, man solle doch "verhandeln". Verhandeln? Das tut man doch seit 15 Jahren!
Natürlich richten sich all diese Erklärungen nicht an die Hardcore-Randalierer. Sie verachten "bürgerliche" Parteien jedweder Couleur. Es geht um das Berliner Bürgertum, wo es zum guten Ton gehört, sich abfällig über Innensenator Frank Henkel (CDU) zu äußern, der beschlossen hat, der Rechtsstaat müsse endlich Flagge zeigen und die Umbauarbeiten in der Rigaer Straße schützen, koste es, was es wolle. Weit ab von den Krawallen – ob in Mitte oder Dahlem, Prenzlauer Berg oder "Kreuzkölln" – pflegt man gern die Attitüde, ein bisschen Gewalt gehöre zur Berliner Folklore.
In der Innenverwaltung ist man jedoch der Ansicht, dass – wie beim 1. Mai in Kreuzberg – die Bürger auch in Friedrichshain ihre Straßen wieder zurücknehmen wollen und werden. Der Kiez verändere sich, wie die Stadt, die Kämpfe um die Rigaer Straße seien ein letztes Aufbegehren der einst in Kreuzberg und Friedrichshain dominanten Radikalen.
Zwei, drei Wochen müsse man durchhalten, dann seien die Bauarbeiten abgeschlossen, die neuen Mieter eingezogen, die Polizeipräsenz könne heruntergefahren werden, die Straße werde zur Ruhe zurückfinden. Geht die Rechnung auf, steht Henkel gut da, auch wenn man das in linksbürgerlichen Kreisen nicht gern zugeben wird.
Geht sie nicht auf, kann Müller sagen, er habe das ja geahnt. Es ist kein gutes Spiel, das der Regierende, die Grünen, die Piraten und die Linkspartei spielen, und das am Ende nur den Rechtspopulisten nutzt. Diese Gewalt – denn darum handelt es sich – wird heruntergespielt und instrumentalisiert, weil man der eigenen Klientel die Wahrheit nicht zumuten will, die jeder am Samstagabend in Friedrichshain sehen konnte: Hier stehen die Ewiggestrigen gegen die Heutigen auf, die Engstirnigen gegen die Weltoffenen, die verzogenen Kinder des Bürgertums gegen ihre allzu lange allzu nachsichtigen Eltern.
Quelle : welt.de
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