Darum ist Pokémon Go bei Muslimen verpönt

  06 September 2016    Gelesen: 771
Darum ist Pokémon Go bei Muslimen verpönt
Das Spiel aus Japan kränkt die muslimische Vorstellung von der Erschaffung der Welt und von der Einzigartigkeit Allahs. Versteht der Islam wirklich keinerlei Spaß? Oder hat er ein bisschen recht?
Unter Unternehmen gibt es eine neue Unsitte: Sie weisen Anfragen zu Themen, die für Streit sorgen, mit der Begründung zurück, gerade überlastet zu sein.

Bittet man etwa ein bekanntes Münchner Kaufhaus um eine Stellungnahme zum Bettelverbot in der bayerischen Landeshauptstadt, erklärt die Presseverantwortliche: "Ich muss Ihnen diesmal aufgrund knapper Kapazitäten leider absagen."

Und möchte man von der Pokémon Company erfahren, in welchen muslimisch geprägten Ländern Pokémon Go zum Teil oder komplett verboten ist und wie der Konzern darauf reagiert, teilt dessen deutsche PR-Agentur mit, "aufgrund der vielen Anfragen" seien momentan "leider keine Antworten" möglich.

Dabei würde eine Auskunft eine Einordnung sehr wohl erleichtern. Denn kaum poppt irgendwo in der muslimischen Welt eine Nachricht von einem "Pokémon-Go-Verbot" auf, wird dies im Westen reflexartig in einen Kontext mit Wahnsinn und islamistischem Terrorismus gestellt.

Leserkommentare lauten dann: "Da hilft kein Arzt und auch kein Medikament mehr. Wie gestört muss man sein, um auf so was zu kommen?" Oder auch: "Menschen, die Freude empfunden haben, lassen sich schwerer dazu bewegen, sich in die Luft zu sprengen."

Fatwa gegen die Karten

​Als Saudi-Arabien 2001 eine Fatwa, also ein religiöses Rechtsgutachten zur Auslegung der Scharia, gegen das Pokémon-Kartenspiel erließ, interessierte es hierzulande maximal die Islamwissenschaft. In jener Zeit hätte sich der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) aber auch noch vorwerfen lassen müssen, er wolle vom Rechtsextremismus ablenken, wenn er vor einer islamistischen "Kultur des Todes" gewarnt hätte.

Heute ist genau das Gegenteil der Fall, wird jede noch so belanglose oder bizarre Äußerung eines muslimischen Geistlichen, die nicht ins westliche Weltbild passt, als Beleg für die Rückständigkeit des Islam und die bevorstehende Apokalypse gewertet.

Als das in der Provinz Mekka ansässige Nachrichtenportal "Arab News" am 20. Juli 2016 berichtete, Saudi-Arabien habe die 15 Jahre alte Fatwa "ausdrücklich erneuert", trat die Meldung eine Reise rund um den Globus an. Die großen Nachrichtenagenturen griffen sie auf. Die "Welt" schrieb: "Saudi-Arabien verdammt Pokémon Go als unislamisch".

Einen Tag später gab das Ministerium für Kultur und Information in Riad bekannt: "Der Rat der Höchsten Religionsgelehrten Saudi-Arabiens bestreitet, eine neue Fatwa über das Pokémon-Spiel veröffentlicht zu haben. Entsprechende Medienberichte sind nicht korrekt."

Tatsächlich steht allein die Fatwa in der Version von 2001 auf der Website des höchsten religiösen Gremiums des Königreichs. Nach eigenen Angaben erhielt es wegen des neuen Handyspiels zahlreiche Anfragen. Der Begriff "Pokémon Go" taucht in der Version von 2001 nicht auf, sehr oft aber das Wort "Karten", womit Sammelkarten gemeint sind.

So logisch wie die jungfräuliche Geburt

Das islamische Rechtsgutachten mit der Nummer 21758 ist in der typischen Sprache der Kleriker gehalten. Wer nicht an den Koran und an dessen Interpretation durch Scharia-Interpreten glaubt, wird es für blanken Unsinn halten. So, wie Millionen Menschen der aufgeklärten westlichen, christlichen Welt es nicht verstehen, warum Katholiken an der jungfräulichen Geburt festhalten. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Glaubenssache.

"Dieses Spiel beinhaltet viele religiöse Verletzungen einschließlich Polytheismus ("Vielgötterei" – die Red.) und Glücksspiel", heißt es in der Fatwa. Der Koran akzeptiert lediglich einen einzigen Gott und verbietet bei strengerer Auslegung jede Form des Zockens. Beklagt wird außerdem die andauernde Verwendung des Begriffs "Evolution" sowie von Symbolen "abtrünniger Religionen und Organisationen".

Gemeint sind damit das christliche Kreuz, der sechszackige Davidstern der Juden – "Sie finden selten eine Karte, die nicht so einen Stern enthält" – Winkel und Dreiecke des Freimaurertums sowie Zeichen des Shintoismus, einer fast nur in Japan praktizierten Naturreligion, die ausdrücklich viele Götter nebeneinander akzeptiert.

Die britische BBC zitierte einen Nintendo-Sprecher mit den Worten, das Unternehmen habe beim Entwurf des Spiels keine religiösen Symbole im Sinn gehabt. Nintendo habe dennoch zugesagt, die Einwände zu prüfen, die "zum Verbot" in Saudi-Arabien geführt hätten. Nachfragen bei Nintendo, was damit gemeint sei, blieben unbeantwortet.

Doch selbst wenn das Unternehmen alle – zufällig oder doch absichtlich – eingebauten Zeichen anderer Religionen entfernen würde, so bliebe aus islamischer Sicht immer noch die Sache mit der Evolution, derzufolge sich "eine Kreatur", wie es in der saudischen Fatwa 21758 heißt, "zu einer anderen Form weiterentwickelt".

Auf der Suche nach Kompromissen

Mehr als 150 Jahre nach Erscheinen seines Werkes "Die Entstehung der Arten" streiten islamische Rechtsgelehrte über die Evolutionstheorie von Charles Darwin, ob sie – zumindest in Ansätzen – mit dem Islam vereinbar sei oder nicht. "Für uns klingt die Begründung des Verbots ziemlich absurd", sagt der Islamwissenschaftler Jens Scheiner, Professor an der Georg-August-Universität Göttingen.

Die Pokémon-Monster mit der Evolutionstheorie in Verbindung zu bringen, "ist auch in meinen Augen abstrus. Die Deutung der Symbole ist weit hergeholt." Lediglich der Verweis auf das Glücksspiel sei im Lichte islamischer Tradition nachvollziehbar.

Dennoch plädiert Scheiner dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. "Betrachtet man die Entscheidung mit den Augen eines streng gläubigen Muslims, sieht das anders aus." Die alte Pokémon-Fatwa lediglich herunterzubrechen auf die Aussage, der Islam verstehe keinen Spaß, lehnt der Professor ab. "Das greift viel zu kurz."

Ein Verbot heißt nicht, dass es verboten ist

Er verweist zudem darauf, dass ein Verbot nicht gleich ein Verbot sei. "Wenn die Kairoer Al-Azhar-Universität Pokémon Go als Sünde einstuft und zum Nichtspielen rät, ist das eine Empfehlung mit starker Ausstrahlung auf die Muslime, aber kein Gesetz, das bei Missachtung vom ägyptischen Staat bestraft wird", erläutert der Forscher. "Anders ist es in Saudi-Arabien, wo die staatliche Religionspolizei strikt darauf achtet, dass die Gesetze eingehalten werden."

Ein Blick in muslimisch geprägte Länder untermauert Scheiners Aussage. Abbas Schuman, der Vizescheich der Al-Azhar, geißelt die Begeisterung für die virtuelle Monsterjagd als "schädliche Manie". Es gehe nicht um die generelle Ablehnung neuartiger Technologien, sondern um den geradezu obsessiven Gebrauch des Spiels, der Junge und Alte "wie Betrunkene" erscheinen lasse und von Arbeit sowie Gebet abhalte. Klingen Prediger, die sich – nachvollziehbare oder irrationale – Sorgen um ihre Gemeinde machen, hierzulande sehr viel anders?

Khalifa al-Makhrazi ist der muslimische Chef des Familienbeirats von Dubai. Im Sender Sky News Arabia warb er unter Berufung auf eine "klare und offizielle Fatwa" der Al-Azhar für ein Pokémon-Go-Verbot. Nun höre er: "Das ist doch nur ein Spiel, nur Spaß. Warum ist es verboten?" Er verweist ebenfalls auf die Lehre Darwins, erklärt aber auch, dass sämtliche gemachte Bilder "sofort in globale Server gehen", wo sie dauerhaft gespeichert würden. "Dieses Spiel ist die Nummer eins eines modernen Spionageprogramms weltweit. Eine Person, die das Spiel spielt, verwandelt sich unwissentlich in einen Spion."

Darüber kann man lachen. Oder es ernst nehmen. Leser der "Welt" tun es jedenfalls. Einer schreibt im Forum, er glaube, "dass es sich bei dem Spiel um eine irrsinnige Datensammelei handelt, die so bisher undenkbar war. Die Lauscher wird es freuen, dass die Menschen so dämlich sind."

Der deutsche Professor Hartmut Könitz, der an der Universität für Kunst in Utrecht über Digitale Medien und Videospiele forscht, sagt: "Bedenken gegen Pokémon Go existieren überall." Gründe seien kultureller, religiöser, praktischer und sicherheitspolitischer Natur. Eine Rolle spielten Suchtpotenziale, Unfallgefahren, Darwins Lehre und die Privatsphäre. "Wenn Pokemons im Vorgarten des Nachbarn auftauchen, ist das für uns zwecks Anbahnung sozialer Kontakte vielleicht interessant. Aber nicht jeder Kulturkreis empfindet das so." Gewicht hätten auch militärische Sicherheitsbedenken, "da die Bewegungsdaten der Spieler zumindest theoretisch zu verbesserten digitalen Karten führen". Amerikanische Politiker sorgten sich um die Benutzung der Daten. Der US-Kongress lasse die Problematik bereits untersuchen.

Der Iran dürfte das erste Land der Welt sein, das aus Sicherheitsgründen über Pokémon Go ein generelles Verbot verhängen wird oder es schon getan hat. Die für die Überwachung des Internets zuständige Regierungsstelle erklärte zwar laut der halbstaatlichen Nachrichtenagentur Insa, dass der Hersteller noch gar keine Betriebserlaubnis angefordert habe. Angeblich soll es Gespräche über eine eingeschränkte Erlaubnis gegeben haben, dass etwa Daten nur auf iranischen Servern abgespeichert werden dürften. Doch der "Guardian" berichtete unter Berufung auf einen hohen Justizbeamten, dass der Geheimdienst das Verbot befürwortet habe.

Anfang August meldete die Deutsche Presseagentur ein Verbot des Spiels durch "Malaysias oberste islamische Autoritäten". Die Bevölkerung solle davor bewahrt werden, von dem Spiel verdorben zu werden, hätten die Muftis der malaysischen Bundesstaaten verkündet.

Rund 20 der mindestens 30 Millionen Einwohner Malaysias sind Muslime, der Islam ist in dem asiatischen Land Staatsreligion. Seither wird Malaysia in Blogs, längst nicht nur in islamkritischen, neben dem Iran und Saudi-Arabien zu den Ländern gerechnet, wo Pokémon Go grundsätzlich auf dem Index stehe.

Pokémon in Malaysia

Die offene Facebook-Gruppe "Pokémon Go Malaysia" zeichnet ein anderes Bild. 38.000 Leute gehören ihr bisher an. Und würden alle Malaysier "das Verbot" befolgen, würde sich eine Muslimin in George Town im Bundesstaat Penang wohl kaum in der größten englischsprachigen Zeitung Malaysias "The Star" über schlaflose Nächte aufgrund vieler Pokémon-Go-Spieler beschweren. Sie lärmten, vermüllten die Gegend und machten beim Urinieren nicht einmal vor einer Moschee halt.

"Es ist keine Straftat, zu spielen", zitiert die Online-Ausgabe des Blatts die Frau. Doch bitte sie darum, den Bereich der Moschee zu respektieren. "Schalten Sie zumindest Ihre Fahrzeugmotoren aus."

Nachfrage bei der Zeitung, ob Pokémon Go in Malaysia verboten sei. Esther Ng, Redakteurin bei der Sonntagsausgabe des "Star", antwortet: "Nein! Ich spiele es selbst."

Quelle : welt.de

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