Es ist nicht bekannt, ob Kanzlerin Angela Merkel solche Maßnahmen im Sinn hatte, als sie im Gespräch mit den Regierungschefs kleinerer EU-Staaten am Sonntagabend einen Wow-Effekt für die Europäische Union forderte. Sicher aber ist, dass Juncker in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union heute Vormittag in Straßburg mehr einfallen muss, wenn er die Europäer aus ihrer Verzagtheit reißen will als diese symbolische Geste gegen den Einfluss von Lobbyisten.
Ein Wow-Effekt, einfach wird das nicht. Bereits 2015 hat Juncker deutliche Worte für die Malaise der EU gefunden: "Es fehlt an Europa in dieser Union", sagte er, und "es fehlt an Union in dieser Union". Ein Jahr später hat sich daran wenig geändert. Im Gegenteil: Die Briten schicken sich an, der Gemeinschaft den Rücken zu kehren, die Flüchtlingskrise ist längst nicht überstanden, und viele europäische Länder haben mit hoher Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. Von der einst stolz vorgetragenen Idee, Europa soll der fortschrittlichste Wirtschaftsraum der Welt werden, ist ohnehin keine Rede mehr.
Die Politik duckt sich weg
Stattdessen herrscht Zukunftsangst und in vielen EU-Mitgliedsstaaten wächst die Skepsis, ob das europäische Projekt nicht eher Teil des Problems ist als Teil einer Lösung. Eine Stimmung, die sich Populisten vom Front National bis zur AfD zunutze machen. Die Politik duckt sich weg. Eine nüchterne Debatte etwa, ob die angestrebten Freihandelsabkommen Ceta und TTIP dem schwächer werdenden europäischen Kontinent in einer globalisierten Welt nicht vielleicht doch auch Chancen bieten, scheint in vielen Ländern, allen voran Deutschland, gar nicht mehr möglich.
Europa fehlt es nicht an hochtrabenden Reden, und Juncker sollte es heute tunlichst unterlassen, neue Wolkenkuckucksheime etwa von einer gemeinsamen europäischen Armee zu bauen. Stattdessen sollte er aufzeigen, wie er konkrete Probleme lösen will, die die Menschen umtreiben, die Steuergerechtigkeit etwa. Der Fall Apple hat zuletzt eindrucksvoll bewiesen, dass Europa gemeinsam stärker ist als seine einzelnen Mitglieder. Ein einzelnes EU-Mitglied wäre kaum ein erstzunehmender Gegner für die auf Steuerersparnisse erpichten Internetgiganten von der US-amerikanischen Westküste. Die EU dagegen kann Irland dazu verdonnern, 13 Milliarden Euro Steuern nachzufordern und so eine Politik unterbinden, die letztlich jedem europäischem Steuerzahler schadet.
Doch Europa kann nur dort Lösungen anbieten, wo es, wie im Wettbewerbsrecht, auch die Macht hat, die Dinge zu regeln. Schon bei der Flüchtlingskrise ist das schwierig. Gut gemeinte Pläne der EU-Kommission vom gemeinsamen Asylrecht und einer Quote für die Verteilung von Flüchtlingen bringen wenig, wenn sich einzelne Mitglieder aus ihrer Verantwortung stehlen können. Oft ist es genau diese Differenz zwischen vollmundigen Ankündigungen und der tristen Realität, die die Enttäuschung der Bürger über die EU befördert.
Regeln müssen wieder gelten
Die große Erfolgsgeschichte der EU ist der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen über Grenzen hinweg - es wäre höchste Zeit, dieses Erfolgskapitel für die digitale Wirtschaft weiter zu schreiben. Warum kann man in Frankreich nicht einfach den "Tatort" in der ARD-Mediathek anschauen oder in Spanien problemlos Bücher bei einem deutschen Internet-Antiquariat bestellen? Es wären kleine Fortschritte, sicher, aber greifbare. Merkel und Juncker, so ist zu hören, waren sich bei ihrem Treffen Ende August in Meseberg einig, genau da, beim Digitalen, voranzukommen.
Dazu kommt, dass Regeln wieder gelten müssen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte den Europäern eine starke Währung sichern. Doch was bringt er, wenn sich keiner daran hält? Kommissionschef Juncker höchstpersönlich schreckte ein ums andere Mal davor zurück, eigentlich anstehende Sanktionen zu verhängen. Heimliche Komplizen waren dabei Mitgliedstaaten wie Deutschland, die ihn, wie zuletzt im Falle Spaniens, zu Milde anhielten. Juncker sollte den EU-Staaten heute klar sagen, dass er auf Dauer die Ausnahmen nicht zur Regel machen kann. Entweder der Pakt gilt oder der Club gibt sich neue Regeln. Alles andere untergräbt das Vertrauen in Europa.
Ex-Kommissionschef Barroso muss seinen Lobbyistenkoffer jetzt auch durchleuchten lassen, bevor er zum fürstlichen Mittagessen in den 13. Stock des Kommissionsgebäudes empfangen wird. Es wäre gut, wenn das nicht Junckers einzige vorzeigbare Aktion in dieser Woche bliebe.
Quelle : spiegel.de
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