Bravoslava
Fast drei Monate nach dem Brexit-Referendum sendet die EU die ersten Lebenszeichen, doch der Schock, den das britische Votum auslöste, ist längst nicht verdaut. Die EU gibt sich eine Agenda mit konkreten Projekten, die sie bis zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im kommenden März in Rom abarbeiten will. Und weil man nicht schon wieder Enttäuschung bei den Bürgern produzieren will, fallen die Ideen erst mal eher bescheiden aus, man könnte auch sagen: machbar. Bloß keinen neuen Streit, allerorts war das an diesem Freitag zu spüren, der "Geist von Bratislava" eben.
Wie schwer das manchen fällt, merkte Merkel schon bei der ersten Debatte in den Gemäuern der hübschen Burg, die über der slowakischen Hauptstadt thront. Etliche Staats- und Regierungschefs machten klar, dass ihnen weiterhin die Flüchtlingskrise unter den Nägeln brennt. Die große Mehrzahl hält Merkels Politik der offenen Grenzen vom Herbst 2015 für einen ähnlich großen Fehler wie in der Heimat CSU-Chef Horst Seehofer.
"Flexible Solidarität" statt feste Quoten
Und so nähert sich die Bundesregierung seit Wochen einer Idee an, die die vier Visegrad-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei am Rande des Gipfels noch einmal vortrugen: statt der von Brüssel beschlossenen festen Aufnahmequoten für Flüchtlinge heißt es nun "flexible Solidarität". Die Idee: Länder, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, engagieren sich eben auf andere Weise: indem sie Polizisten für den gemeinsamen europäischen Grenzschutz schicken oder mehr in die Entwicklungshilfetöpfe für afrikanische Ursprungsländer zahlen.
"Ich sehe darin durchaus einen positiven Ansatz", sagt Merkel nach dem Gipfel. Die Kanzlerin, die einst die anderen EU-Mitglieder zur Aufnahme von Flüchtlingen verdonnern wollte, sagt jetzt Sätze, die ihr noch vor wenigen Monaten kaum über die Lippen gekommen wären. "Die illegale Migration soll gestoppt werden", sagt sie und fügt nur knapp ein "wenn möglich" an. In Bratislava nähert Merkel sich so einem Eingeständnis, das sie ihren Gegnern in Deutschland noch verweigert: Ich habe verstanden.
Allenfalls Rückzugsgefechte führt Merkel. In der "Bratislava Roadmap" versprechen die 27 Staats- und Regierungschefs, "nie wieder eine Rückkehr des unkontrollierten Zustroms von Migranten wie im vergangenen Jahr zuzulassen". Ratspräsident Donald Tusk, so ist zu hören, plädierte intern für eine schärfere Formulierung und wollte von "Migrationschaos" sprechen, das hat die deutsche Seite offenbar verhindert.
Ansonsten: ein neuer Name, ein neuer Zeitplan. Bis zum Geburtstag der EU im kommenden März soll das Brainstorming darüber, was falsch läuft in der EU, abgeschlossen sein. Konkrete Projekte dieser "Bratislava Roadmap" sollen den Bürgern zeigen, dass die EU liefern kann. Es geht um sichere Grenzen, Schutz vor Terroranschlägen, um mehr wirtschaftliche Dynamik. "Das Wohlstandversprechen der EU wird zur Zeit nicht ausreichend eingelöst", sagt Merkel.
Gruppentherapie im Verdrängen
Übersetzt bedeutet das, geländegängige Fahrzeuge für den bulgarischen Grenzschutz, mehr Geld zum Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, schnelles Internet von Porto bis Riga. Die neue europäische Realität ist kleinteilig, Europas kleinster gemeinsamer Nenner ist, nun ja, eben genau das - sehr klein.
Dabei hilft bei den Großthemen Euro und Flüchtlinge womöglich nur eine stärkere Integration wirklich weiter, eine gemeinsame Asylpolitik etwa oder eine strengere Kontrolle der Budgets der EU-Mitglieder. Gut möglich, dass die richtige Medizin für Europa manches Mal mehr Europa ist. Doch weil jeder weiß, dass das nur zu Streit führt, lässt man erst mal die Finger davon "Es geht jetzt weder um große Erklärungen, noch um Vertragsänderungen", sagt Merkel. Der Bratislava-Gipfel, er ist auch eine Gruppentherapie im Verdrängen.
Merkels Flüchtlingspolitik hat der deutschen Kanzlerin Einfluss gekostet in Europa, überall ist das an diesem Tag spürbar. Natürlich ist Deutschland kein Mitgliedsland, wie jedes andere, dafür sorgt schon seine wirtschaftliche Vormachtstellung. Aber es dreht sich nicht mehr alles um die deutsche Kanzlerin - anders, als noch der Euro gerettet werden musste oder Deal mit der Türkei verhandelt wurde.
Immerhin, auf der Regina Danubia war am Mittag alles noch wie immer: Am Heck des Schiffes, mit dem die Staats- und Regierungschef für knapp eineinhalb Stunden über die Donau schipperten, wehte nur eine Flagge - die deutsche. Das Schiff war aus Passau angemietet.