Wer die brachiale Optik mit dem weit aufgerissenen Lüftungsschlund unter der Motorhaube vergisst, die ausgestellten Kotflügel ignoriert und das wuchtige Heck mit dem großen Heckspoiler samt der darunterliegenden vierflutigen Auspuffanlage nicht gesehen hat, der könnte beim Besteigen des nach neun Jahren runderneuerten Nissan GT-R ein flauschiges Gefühl bekommen. Wohlgeformte, mit weichem Nappa bespannte Sportsitze empfangen den Fahrer und auch sonst wurde die sonst so schnöde Plastikwelt an Armatur und Türen mit dem edlen Naturmaterial überspannt.
Böses Materiebrummen
Während der erste Blick auf die analogen Rundinstrumente fällt, in deren Zentrum natürlich der Drehzahlmesser ruht, findet das Auge, wenn es sich ein wenig Zeit nimmt, zudem Ziernähte, die die Lederpolsterung auf dem Dashboard und am Mitteltunnel veredeln. All das ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass so ein GT-R mindestens 99.900 Euro kostet. Und für Menschen, die so viel Geld ausgeben, sollte auch ein Bolide vom Format eines Godzilla einige Annehmlichkeiten bieten. Schließlich muss man bei zwei Einzelsitzen im Fond - die den Namen nicht verdienen - und einem Kofferraum, der immerhin noch 315 Liter fasst, im Alltagsbetrieb bereits genug Einschränkungen hinnehmen.
Doch all das interessiert spätestens dann nicht mehr, wenn der rote Startknopf in der Mittelkonsole gedrückt ist und die vier Trompeten von Jericho am Heck erschallen. Na gut, Mauern werden hier nicht einstürzen und so wütend wie die Echse in den japanischen Filmen brüllt der GT-R dann auch nicht. Trotz echter Drosselklappen hält sich das Monster bei der Entäußerung seiner Kraft dezent zurück. Und so ist es im Leerlauf eher ein böses Materiebrummen als ein nach außen gerücktes Brüllen. "Es entspricht einfach nicht der zurückhaltenden japanischen Art, mit dem, was man hat, zu prahlen", erklärt der Manager der Sportautos von Nissan, Michel Jansen. Vielmehr hat Nissan unterhalb des Armaturenbretts sogar einen "Flüsterknopf" verbaut. Ist der gedrückt, gelingt der Frühstart in der Reihenhaussiedlung fast tonlos.
Kick mit dem Kippschalter
Mehr in Richtung Godzilla wird der GT-R durch den von Takumi handgefertigte 3,8-Liter-Sechszylinder gerückt, der sich beim Tritt auf das Gaspedal schnaubend hin und her wirft. Noch bevor der erste Gang mit einem deutlichen Ruck eingelegt ist, wird klar, warum der GT-R den Spitznamen bekommen hat. Statt der 550 PS seines Vorgängers hat der Nippon-Renner jetzt 570 Pferde unter der Haube. Traben die, getrieben durch das Sechsgang-Doppelkupplungsgetriebe, richtig an, reicht das, um den Sportler bis auf Tempo 315 zu beschleunigen. Damit stellt er beim Vmax sogar die angesagten Gegner Jaguar F-Typen und den Mercedes-AMG GT in den Schatten. Wie sich die Sache beim Ampelstart verhält, verraten die Japaner nicht. Ist für den Moment auch egal, denn die volle Wucht eines GT-R wird der Fahrer selbst auf deutschen Autobahnen nie in Gänze ausleben können. Denn auch die Fahrt in einem Monster schützt einen bei Tempo 250 kaum gegen ausscherende Transporter oder Lkw. Wer einen Rabauken wie den Sport-Nissan an die Grenzen treiben will, der muss schon den Rundkurs aufsuchen.
Diese Erfahrung blieb dem Tester bei seiner Ausfahrt leider verwehrt. Obgleich die drei Kippschalter zur Steuerung der Kraftverteilung des Transaxle-Getriebes, des Fahrwerks und der kleinen Helferlein rund um das ESP allesamt die Stufe "Race" anbieten. Klar, dass die Versuchung viel zu groß war, als dass der Pilot die Finger davon gelassen hätte. Letztlich ist das dann auch genau die Einstellung, die das Monster weckt. Während die Gasannahme jetzt so brutal schnell erfolgt, dass es einem beim Kickdown dermaßen in den Sitz wirft, dass der Kopf spürbar an der Kopfstütze anschlägt, verhärtet sich das Fahrwerk so, dass Spurrillen im Asphalt zu Schienen werden und man tunlichst darauf achten muss, dass die elektromechanische Lenkung, die jetzt extrem dicht ist, nicht verrissen wird.
Übermut tut selten gut
Wer will, kann die Beschleunigung über die im neuen GT-R endlich am Lenkrad und nicht mehr an der Säule fixierten Schaltwippen steuern. Ein echter Spaß beim Überholen auf der Autobahn: Von Gang sechs auf vier runtergetastet, zieht der Zeiger des Drehzahlmessers in Richtung 4000. Blinker setzen und mit einem beherzten Tritt auf den Pin schießt das Urzeitmonster nach vorne. Jetzt bewegt sich auch endlich die Tachonadel aus dem unsichtbaren unteren linken Eck, wo die Zahlenfolge bis 160 versteckt ist, während der Drehzahlmesser mit gelb und rot leuchtenden Dioden kurz vor der 7000 den nächsten Schaltvorgang anmahnt. Das, was in den nächsten vier Sekunden passiert, ist eigentlich nur noch mit dem Flug im Cockpit eines Jets vergleichbar. Motor und Rollgeräusche werden durch das Bose-Soundsystem ausgefiltert. Was bleibt, ist das Rauschen des Windes, das leise Pfeifen der zwei Turbolader, die den V6 beatmen und eine immer enger werdende Autobahn.
Hier gilt tatsächlich das Sprichwort: Übermut tut selten gut. Aber wie geht es weiter? Sprach die Glucke, fiel vom Straußenei und verstauchte sich den Flügel. Denn Nissan hat für den GT-R einen Grundsatz. Der gilt bereits seit der ersten Generation, die 1969 das Licht der Welt erblickt: "anyone, anywhere, anytime" (jeder, überall, jederzeit). Für den Wagen heißt das nichts anderes, als dass der GT-R auch in Grenzbereichen für jedermann fahrbar bleiben sollte. Mit Einschränkungen darf das an dieser Stelle unterschrieben werden. Der Supersportler kann mit etwas Können eine 80er Kurve mit 160 km/h durchlaufen. Das ist mehr als beachtlich und lässt einen alten Test von Top Gear glaubhaft erscheinen, wo die G-Kräfte bei der Kurvenhatz mit dem GT-R so stark waren, dass es dem Fahrer die Halswirbel ausgerenkt haben soll.
Kurven und Cruisen
Nun sollte der Normalfahrer weit davon entfernt sein, sich mit dem Godzilla krankenhausreif zu kurven. Vielmehr sind diese Geschichten nur ein Indiz dafür, dass dieser Wagen eine Potenz hat, die man ihm so nicht zutrauen würde. Mit 1,7 Tonnen ist der Nissan GT-R kein Leichtgewicht und der Radstand von 2,87 Metern lädt auf den ersten Blick auch nicht dazu ein, die Kiste mit Schmackes in die Kehre zu schmeißen. Andererseits ist es ein Beweis dafür, dass die Ingenieure hier ganze Arbeit geleistet haben. Vor allem bei der Kraftverteilung an die Räder. Dort, wo bei anderen die Elektronik den Fahrspaß einbremst, geht der Nissan wie an der Schnur gezogen ums Eck.
Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass man mit dem Japan-Boliden auch ganz gepflegt cruisen kann. Wer die Dämpfer auf Komfort, das Getriebe auf safe und das ESP in der Normalstellung belässt, gleitet ganz geschmeidig dahin. Doch während er in punkto Dynamik und Rundkurstauglichkeit der Konkurrenz durchaus das Wasser reichen kann, muss man mit Blick auf die Ausstattung im Vergleich deutliche Abstriche machen. Fahrassistenten wie den adaptiven Spurassistenten, Verkehrszeichenerkennung, adaptiven Tempomat oder Totwinkelwarner sucht der Käufer hier vergebens. Auch aufwendigen Zierrat im Innenraum wird man nicht finden. Das macht den Japaner aber nicht nur preiswerter als die Mitbewerber, sondern in gewisser Weise auch natürlicher. Wie lange das reicht, um im Haifischbecken der Boliden mitzuschwimmen, muss abgewartet werden. Fakt ist, dass der Nissan GT-R für die, die ihn gefahren sind, ein gewisses Suchtpotenzial in sich birgt. Das könnte mit der "Track Edition", die ab November zu haben ist, noch ein wenig gesteigert werden. Immer vorausgesetzt, man ist in der Lage und bereit, 117.900 Euro auszugeben.
Quelle: n-tv.de
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