Als der Traum von Europa im Feuer verglühte

  29 September 2016    Gelesen: 618
Als der Traum von Europa im Feuer verglühte
Klaus Urbanczyk reist vor 45 Jahren mit dem Halleschen FC Chemie voller Euphorie ins niederländische Eindhoven. Doch statt einer Sternstunde im Uefa-Cup erlebt der DDR-Nationalspieler die größte Katastrophe in der Geschichte des HFC.
In den frühen Morgenstunden wird Klaus Urbanczyk durch lauten Krach und das Splittern von Fensterscheiben aus dem Schlaf gerissen. Als er aus dem Fenster schaut, sieht der Star des Halleschen FC Chemie in den unteren Etagen des Eindhovener Hotels "Silbernes Seepferd" Flammen aus den Fenstern schlagen. Sofort rennt der Fußballer mit seinem Zimmergenossen und Mannschaftskollegen Günter Riedl über die Flure, um die schlafenden Hotelgäste zu wecken. "Wir waren nur im Pyjama." Mehrmals rufen sie "Feuer!": "Das versteht jeder." Später erfahren sie, dass es in der Hotelküche eine Gasexplosion gegeben hat. Es ist der 28. September 1971 - der Tag, an dem sich die größte Katastrophe in der Geschichte des DDR-Oberligisten ereignet.

Nach fünf Jahren Abstiegskampf wächst der HFC in der Saison 1970/71 überraschend über sich hinaus. Das junge Team um den bereits 31-jährigen Urbanczyk beendet die Oberligasaison auf Platz drei und sichert sich somit vor dem Erzrivalen aus Magdeburg einen Startplatz im Uefa-Cup. Am 15. September 1971 erkämpfen sich die "Chemiker" im heimischen Kurt-Wabbel-Stadion ein 0:0 gegen die PSV Eindhoven mit Verteidiger Guus Hiddink - eine vielversprechende Ausgangslage für das Rückspiel.

Gemeinsam mit 15 weiteren HFC-Spielern reist der 34-malige DDR-Nationalspieler in die niederländische Stadt. "Wir sind mit sehr viel Optimismus und Siegeswillen dort hingefahren", erinnert sich der heute 76-Jährige im Gespräch mit n-tv.de. "Als wir in Eindhoven ankamen, regnete es in Strömen. Wir hatten Sorge, dass das Spiel wegen des Regens am nächsten Tag nicht stattfinden würde."

"Ich dachte, dass ich verbrenne"

Bis "Banne", so sein Spitzname, über die Ereignisse von Eindhoven sprechen kann, dauert es Jahrzehnte. "Es ist sehr aufregend, wenn man daran zurückdenkt. Das waren schlimme Dinge, die wir dort erleben mussten." Damals kämpft Urbanczyk ums Überleben. Gemeinsam mit Mittelfeldspieler Roland Nowotny, Angreifer Erhard Mosert und Torhüter Helmut Brade versucht er, der Flammenhölle zu entkommen. "Da haben wir einen Fehler gemacht: Wir sind mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren. Als wir die Tür aufmachten, schlugen uns die Flammen entgegen, Balken flogen von der Decke." An der Rezeption liegen bereits mehrere Leichen.

Als sie wieder zurück nach oben fahren, gibt es einen lauten Knall. "Alles war plötzlich dunkel. Wir wussten gar nicht, wo wir sind", sagt Urbanczyk. Während er von dem Brand erzählt, überschlägt sich fast seine Stimme. Mittlerweile erreicht der schwarze Qualm die oberen Etagen, die Fluchtwege sind versperrt. "Ich dachte immer: Jetzt verbrenne ich, jetzt ersticke ich." Voller Verzweiflung schlägt er eine Fensterscheibe ein und springt aus fast acht Metern in die Tiefe - "im Blindflug". Bei dem waghalsigen Sprung auf ein Zwischendach zieht sich der als knallhart bekannte Verteidiger schwere Verletzungen zu.

HFC-Talent stirbt in den Flammen

Um in die Freiheit zu gelangen, springt der barfüßige Hallenser erneut. Als ihm später gesagt wird, dass er einen acht und einen sechs Meter tiefen Sprung überlebt hat, sagt er ungläubig: "Niemals bin ich da runter gesprungen!" Als er auf die Straße gelangt, ist die Odyssee noch nicht vorbei. Trotz seiner schweren Verletzungen kehrt er zweimal in das brennende Hotel zurück und rettet mehreren Gästen das Leben. Was eine halbe Stunde dauert, kommt ihm "wie eine Ewigkeit" vor. Nach den Rettungsaktionen bricht "Banne" völlig erschöpft auf der Straße zusammen. "Null, Rhesusfaktor positiv!" ruft er immer wieder, bis ihn das Bewusstsein verlässt. In dem Hotel fand tags zuvor ein Ärztekongress statt. "Das war meine Rettung", resümiert er. "Mit Eigenleistung und ganz viel Glück bin ich damals dem Tod von der Schippe gesprungen."

Für den erst 21-jährigen Wolfgang Hoffmann kommt indes jede Hilfe zu spät. "Der kleine Bengel war schon draußen und ist noch mal zurückgegangen, um seine wertvollen Westklamotten zu holen." Das HFC-Talent, das als Ersatz für den verletzten Stürmer Werner Peter mit nach Eindhoven reiste, erstickt in der Flammenhölle. "Das tut schon weh." Insgesamt sterben bei dem Großbrand 12 Menschen, 20 werden schwer verletzt.

Betreuung vom PSV-Schatzmeister

An die ursprünglich angesetzte Partie gegen die PSV ist nicht zu denken. Halle verzichtet auf das Spiel und zieht sich aus dem Uefa-Cup zurück. Urbanczyk liegt nach der verhängnisvollen Nacht vier Wochen im Krankenhaus. Wegen der schweren Verletzungen wird befürchtet, dass ihm ein Arm und ein Bein amputiert werden müssen. Während der Zeit im Krankenhaus wird er vom PSV-Schatzmeister Ben von Gelder betreut. "Meine Frau und meine Kinder hab ich nur am Telefon sprechen können. Dazu mussten sie extra ins HFC-Kasino gehen." Ein Familienbesuch kam für die DDR-Oberen wegen Fluchtgefahr nicht infrage.

Im Oktober 1971 fliegt Urbanczyk in die Heimat zurück - auf Anordnung der SED-Führung gemeinsam mit der DDR-Nationalelf, die zuvor gegen die Niederlande ein EM-Qualifikationsspiel in Rotterdam bestritten hat (2:3). Im Jahr darauf steht er wieder auf dem Platz. An seine vorherigen Leistungen kann er nach der Verletzungspause jedoch nicht mehr anknüpfen. Für eine Saison trägt er noch das HFC-Trikot, dann beendet er seine aktive Laufbahn. "Ich wollte unbedingt meine Karriere auf dem Sportplatz beenden."

Symbolisches Rückspiel im Jahr 2006

35 Jahre nach dem Großbrand von 1971 reist die PSV Eindhoven im April 2006 zum symbolischen Uefa-Cup-Rückspiel nach Halle. Unter den Augen von Ehrengast Urbanczyk besiegt das Team von Trainer Hiddink den HFC im Kurt-Wabbel-Stadion mit 12:2. Vor dem Spiel bekommt "Banne" vom Starcoach ein PSV-Trikot mit seinem Namen geschenkt. "Du warst damals viel besser als ich", sagt der Niederländer zu ihm. In einer Kiste mit Erinnerungsstücken hat Urbanczyk das rot-weiße Trikot sicher aufbewahrt.

"Meine Karriere war oft erfolgreich. Sie hat aber ganz schön viele Narben", erinnert sich der DDR-Sportler des Jahres 1964. Beim Blick auf die Brandkatastrophe von Eindhoven wird Urbanczyk nachdenklich. "Wenn es damals ein bisschen anders gelaufen wäre, wäre ich doch schon seit 45 Jahren tot." Die schlimmste Tragödie seines Lebens sei aber der Leukämie-Tod seines damals 13-jährigen Enkels. Im Januar dieses Jahres mahnte "Banne" deshalb auf der 50-Jahres-Feier "seines" HFC: "Es gibt schlimmeres als ein verlorenes Fußballspiel."

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