Das ungültige Referendum hatten Orbán und seine Leute gleichwohl als großen Sieg gefeiert, da 98 Prozent der Teilnehmer – immerhin 3,3 Millionen Ungarn – im Sinne der Regierung mit Nein gegen die „Ansiedlung“ von Migranten durch die EU gestimmt hatten. Das Ergebnis wurde als politischer Auftrag für eine Verfassungsänderung aufgefasst. Tatsächlich war die Opposition nicht direkt gegen Orbán zu Felde gezogen. Denn dass dessen Haltung gegen Einwanderung von einer sehr großen Mehrheit in der Bevölkerung geteilt wird, wussten auch sie. Sie riefen aber erfolgreich zum Boykott der Abstimmung auf. Und genau so verhielten sie sich nun auch im Parlament.
Die regierende Fidesz-Partei, zusammen mit der kaum eigenständigen christdemokratischen KDNP, hat im Parlament 131 Stimmen – zwei weniger, als für eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Bei der Wahl 2014 hatten Fidesz/KDNP mit 45 Prozent dank des mehrheitsfördernden Wahlsystems noch haarscharf eine Zweidrittelmehrheit erhalten; seither waren ihr jedoch zwei Sitze in Nachwahlen abhandengekommen. Daher war Orbán nun auf die Zusammenarbeit mit wenigstens einer Oppositionskraft angewiesen.
Als Partner bot sich Jobbik an, die Orbáns grundsätzliche Haltung gegen Immigration teilt. Deren Vorsitzender Gábor Vona versucht seit einiger Zeit, die Partei aus dem rechtsextremen Außenbezirk zu führen und schien sich über die Aufwertung zu freuen. Großspurig forderte er ein „Privatgespräch“ mit dem Regierungschef, das er auch erhielt. Dann stellte er aber eine Bedingung für die Zusammenarbeit: Die Regierung müsse sich von der Praxis verabschieden, Aufenthaltstitel an reiche Ausländer über Regierungsanleihen zu „verkaufen“. Teile der Regierung schienen dazu bereit zu sein, Orbán aber erklärte, er werde sich einer „Erpressung“ nicht beugen. So kam es zu seiner Abstimmungsniederlage im Parlament.
Fidesz-Politiker schäumten nach der Abstimmung vor Wut über die „Verräter“, die den Willen des Volkes nicht respektierten. Außenminister Péter Szijjártó sagte, die Regierung werde ihre Anstrengungen fortsetzen, die Sicherheit des Volks zu gewährleisten. In der Sache werden sich jedoch wenig Folgen ergeben. Zwar gab Szijjártó auch kund, die Verfassungsergänzung wäre „sehr hilfreich“ gewesen, um den Widerstand gegen die „EU-Zwangsquote“ fortzusetzen. Aber erstens war der bisherige Zustand ohne grundgesetzliche Bindung dafür auch kein Hindernis. Und zweitens ist der Plan einer unfreiwilligen Verteilungsquote längst begraben worden, auch in Brüssel. Daran hatte Orbán seinen Anteil, Eindruck hat aber auch gemacht, dass sich andere mittelosteuropäische Staaten wie Tschechien oder die Slowakei dem angeschlossen haben.
Sowohl das Referendum als auch der Versuch einer Verfassungsänderung hatten vor allem eine innenpolitische Zielrichtung gehabt. Es ging der Regierung darum, die Agenda zu bestimmen und ihren Rückhalt in der Bevölkerung wieder zu stärken. Der war nämlich infolge von Korruptionsvorwürfen und unpopulären Entscheidungen (Internetmaut, Sonntagsöffnungsverbot, die beide über kurz oder lang wieder zurückgezogen werden mussten) ziemlich stark abgebröckelt, wie ja auch besagte Nachwahlen gezeigt haben.
Sehenden Auges in die Niederlage
Die Agenda zu bestimmen, ist Orbán gelungen. Über Monate wurde über kaum etwas anderes diskutiert, obwohl die Flüchtlingskrise in Ungarn kaum mehr zu spüren ist. Über den Rückhalt lässt sich das nicht so leicht sagen. Die jetzt zweite Niederlage wird Orbáns Siegernimbus nicht zuträglich sein. Die Zustimmung zum Fidesz ist in der Folge des ungültigen Referendums aber nicht eingebrochen. Die Zeitung Magyar Idök berichtete am Dienstag gar, Fidesz/KDNP würden derzeit bei Wahlen ein besseres Ergebnis erzielen als 2014, was etwa 50 Prozent der Stimmen und – infolge des Wahlsystems – wieder eine eigene Zweidrittelmehrheit bedeuten würde. Das Blatt ist prononciert regierungsfreundlich ausgerichtet, doch stützt es sich auf Umfragen mehrerer Institute, darunter auch solcher, die dem Fidesz fern stehen. Seine Berichterstattung weckt die Erinnerung an Mutmaßungen rund ums Referendum, wonach Orbán auf vorzeitige Wahlen hinarbeite.
Was mag Orbán sonst veranlasst haben, sehenden Auges in diese Niederlage zu gehen? Die Verfassungsänderung bedeutete von vornherein, um Zustimmung bei der Opposition werben zu müssen. Ausgerechnet Jobbik salonfähig zu machen, obwohl doch die ganzen Anti-Migrations-Kampagnen vor allem auf deren Eindämmung ausgelegt zu sein schienen, kann kaum in seinem Interesse gelegen haben. Jobbik-Chef Vona hat zudem einen sehr wirksamen Hebel gegen Orbán gefunden. Die Vergabe von Aufenthaltstiteln gegen Geld, deren Abschaffung Vona forderte, passt nicht gerade zur sonstigen Politik des Regierungschefs. Außerdem umweht auch solche Machenschaften der üble Geruch des Korruptionsverdachts, weil bei dieser Praxis Firmen zwischengeschaltet sind, hinter denen Fidesz-Leute stehen. Und schließlich kochte zuletzt eine Affäre hoch, wonach der vom amerikanischen FBI wegen des Verdachts der Terrorismusfinanzierung gesuchte Saudi Ghaith Pharaon auf diesem Weg 2015 Einlass nach Ungarn erhalten haben soll. Die Aufenthaltstitel sind kein Siegerthema. Es wäre kein Wunder, wenn Orbán sich alsbald dieser Last entledigte.
Setzte Orbán stattdessen auf die Abgeordneten der grün-liberalen Partei LMP, die stets auch etwas Abstand zu den übrigen linken Oppositionskräften hält? Auch dann hätte er sich verrechnet. Die LMP-Fraktionsvorsitzende Erzsebet Schmuck sagte, der Vorwurf sei abwegig, dass Leute, „die nicht in die Falle des Fidesz getappt sind, Verräter sind“.
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