So entging Horst Selbiger dem Todeslager

  27 Januar 2017    Gelesen: 386
So entging Horst Selbiger dem Todeslager
Als Junge erlebt Horst Selbiger die Hetze gegen Juden am eigenen Leib. Nur mit viel Glück entgeht er knapp der Deportation ins Todeslager Auschwitz. Eine Geschichte voller Hoffnung in einer schwarzen Zeit.
Sie nennen ihn "Judensau". Er wird beschimpft, erniedrigt, geschlagen. Keiner hält mehr zu ihm. Horst Selbiger ist in seiner Klasse der einzige Jude. Seine Mutter ist Christin, sein Vater jüdisch. In den Augen der Nationalsozialisten führen seine Eltern eine Mischehe.

"Im einst roten Berlin wehten nur noch Hakenkreuzfahnen, und die Menschen gingen dem auf den Leim. Und so kam es, dass auch schon die Sechsjährigen angesteckt waren von diesem Faschismus, dass ich bei meiner Einschulung darunter zu leiden hatte", erzählt der heute 89-jährige Berliner. Mit acht Jahren geht er zum jüdischen Sportverein Makkabi und lernt Boxen, um sich auch gegen die handgreiflichen Mitschüler verteidigen zu können. "Da gab es dann auch mal was zurück auf die Nase."

Horst Selbigers Vater hat eine Zahnarztpraxis und bekommt Berufsverbot. Doch weil er im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer war, darf er später weiterarbeiten. Die Verleumdungen gegen die jüdische Familie hören aber nicht auf. Horst Selbiger wechselt bald die Schule - und ist dann nur noch unter Juden.

Plötzlich wird die Klasse leerer

Die Verfolgung wird für den jugendlichen Horst immer offensichtlicher: "Im Oktober 1938 fehlten plötzlich eine ganze Menge Kinder. Es waren vor allem diejenigen, deren Eltern ursprünglich mal aus Polen kamen." Sie wurden ausgewiesen, mussten Deutschland verlassen - aber Polen nahm sie nicht auf. Auch Selbiger war klar, was ihm bevorstand: "Wir wussten das, die Kinder waren damals klüger als die Erwachsenen." Der erste Transport von Juden aus Berlin in ein Vernichtungslager geht im Oktober 1941. "Aus Theresienstadt gab es mitunter noch Post, aus den anderen Lagern schon nicht mehr", berichtet Selbiger.

"Nachdem die Transporte begonnen haben, haben wir jeden Tag damit gerechnet und uns gefragt: `Wann sind wir dran?`" Anfang 1942 werden die jüdischen Schulen geschlossen. Für Selbiger bedeutet das Zwangsarbeit - mit 14 Jahren. Er muss in einer Fabrik mit giftigen Substanzen Flugzeugteile entfetten. Dann geht es Schlag auf Schlag: Am 27. Februar 1943 werden sämtliche Betriebe, in denen Juden beschäftigt sind, umstellt, alle Juden in Berlin werden verhaftet. Die SS bringt mehr als 20.000 Juden in vier Sammellager. Auch Selbiger ist dabei. Er wird ins Sammellager der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße gebracht.

Auf der Auschwitz-Liste

"In der Levetzowstraße wurden uns unsere jüdischen Kennkarten weggenommen, wir mussten unterschreiben, dass unser Vermögen beschlagnahmt wird. Und dann bekamen wir die Transportnummer für Auschwitz." In diesem Moment scheint sein Schicksal und das der anderen Juden im Sammellager besiegelt. Ihnen ist bewusst, dass sie vor der Deportation stehen.

Doch dann wendet sich die Geschichte - zumindest für Horst Selbiger und einige andere: "Es war ein Wunder", sagt er heute. Im Sammellager vor der Rosenstraße in Berlin demonstrieren Tausende nichtjüdische Bürger, vor allem Frauen, für die Freilassung ihrer jüdischen Verwandten. Augenzeugen berichten später, dass die Rosenstraße schwarz vor Menschen war, dass es der SS nicht mehr gelang, die Menge auseinanderzutreiben.

Die Demonstration in der Rosenstraße rettet Horst Selbigers Leben. "Ich war in der Levetzowstraße und wir wurden dann in die Rosenstraße verlegt", berichtet er. Alle Juden, die nicht mit Christen verwandt waren, blieben in der Levetzowstraße. Für Selbiger bedeutete die Verlegung in das andere Lager die baldige Entlassung. Es ging zurück ins "Judenhaus" und stand nicht mehr auf der Auschwitz-Liste.

Doch das war ihm damals noch nicht bewusst. "Goebbels hatte schon Berlin für judenfrei erklärt, trotzdem wurden wir entlassen. Es war eine Niederlage für die Nazis, dass wir immer noch da waren." Das Damoklesschwert der Deportation hing aber noch über uns, bis die Russen in Berlin eintrafen." Noch im März 1945 gehen die Transporte in die Vernichtungslager, in denen Millionen Menschen starben. Bis zum Kriegsende muss Selbiger Bombenschäden beseitigen, 60 Stunden Zwangsarbeit in der Woche. Er weiß, dass viele andere Juden, mit denen er im Lager in der Levetzowstraße inhaftiert war, deportiert wurden.

"Juden alle tot, du Faschist"

Als die Russen nach Berlin kommen, gerät Selbiger noch einige Tage in Kriegsgefangenschaft. Sie glauben nicht, dass er Jude ist. "Juden alle tot, du Faschist", sagt ein Russe zu ihm. Mit Mühe kann er beweisen, dass er ein Jude ist, der nicht deportiert wurde.

Erst von diesem Moment an ist auch für Horst Selbiger der Krieg vorbei. Seine Eltern überleben den Krieg ebenfalls. Aus seiner gesamten Familie wurden 61 Menschen in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet.

Quelle: n-tv.de

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