Krise im US-Bildungssystem

  20 März 2017    Gelesen: 872
Krise im US-Bildungssystem
Schulen als Profitcenter, gute Bildung nur für Reiche - in Michigan kann man schon besichtigen, was auf die Amerikaner zukommt. Der Heimatstaat von Trumps Bildungsministerin Betsy DeVos leidet massiv unter ihrer Schulpolitik.

Wenn die Kinder der Mason School im Osten Detroits sehen wollen, wie es ihrer Schule bald gehen könnte, müssen sie nur ein paar Schritte über den Parkplatz gehen. Neben dem flachen Bau ihrer Grund- und Mittelschule steht ein prächtiges altes Gebäude, ein paar Stufen führen hoch zu einer weinroten Tür. "Public School" steht über dem Eingang. Seit fünf Jahren ist kein Schüler mehr hindurchgegangen.

Das einst schöne Schulgebäude verfällt. In den großen Fenstern sind Scheiben zerbrochen, Gestrüpp wuchert über die Wege. In wenigen Monaten könnte auch das Gebäude der Mason Grund- und Mittelschule verlassen sein. Der US-Bundesstaat Michigan droht insgesamt 38 öffentlichen Schulen mit Schließung - 24 davon allein in Detroit - weil sie in Leistungstests drei Jahre in Folge schlecht abgeschnitten haben. Mason ist eine von ihnen.

Nur die Schulen, die ihr Niveau deutlich steigern, bekommen vielleicht noch einmal eine Chance: "Wir wollen sehen, ob die Schulen das Zeug haben, sich zu verbessern", erklärt Natasha Baker, die in Michigan für Schulreform zuständig ist.

Überall in den USA kritisieren die großen Lehrergewerkschaften heruntergekommene Gebäude, Geld- und Lehrermangel, miserable Leistungen der Schüler und Schulschließungen. Das US-Schulsystem steckt in einer tiefen Krise. Und am Heimatstaat der neuen Bildungsministerin Betsy DeVos lässt sich jetzt schon absehen, was wohl auf das ganze Land zukommt: Ein echter Überlebenskampf.

Donavon Gardner führt ihn seit elf Jahren. Er unterrichtet an der Mason in Detroit, ist Sprecher der Lehrerschaft. Er hat selbst zwei Söhne. Auf dem Weg zur Arbeit setzt er sie an einer anderen Public School ab. Dann fährt er zwanzig Minuten in den Osten der Stadt, vorbei an verlassenen und einstürzenden Holzhäusern. "Gerade hier sollte Schule ein sicherer Ort sein", sagt er. Wenn die Kinder Zuhause schon kein fließendes Wasser hätten, dann doch wenigstens in der Schule. "Stattdessen muss ich sie immer daran erinnern, das Wasser so lange laufen zu lassen, bis es nicht mehr trüb ist und auch dann sollten sie es eigentlich lieber nicht trinken."

Gardener bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Aber wenn er die Zustände an seiner Schule beschreibt, wirkt er sehr besorgt. Oft säßen mehr als 30 oder 35 Kinder in einer Klasse, Kunst, Musik oder Sport fallen aus, weil es keine Lehrer dafür gibt. Seit Anfang des Schuljahres wartet er darauf, dass ihm ein Computerprogramm für den Unterricht bewilligt wird. "Es kostet nur 200 Dollar, aber dafür fehlt das Geld", sagt Gardner. Um arbeiten zu können, bezahlt er Materialien immer wieder aus der eigenen Tasche.

Bildung wird privatisiert

Die Milliardärin und neue Bildungsministerin DeVos engagiert sich seit Jahrzehnten in Michigans Bildungssektor. Die Schließungen dort sind das Ergebnis einer Schulpolitik, die sie entscheidend mitgeprägt hat: Seit Anfang der Neunzigerjahre unterstützt sie die "School Choice"-Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass Schüler selbst entscheiden können, wo und wie sie unterrichtet werden - an einer öffentlichen oder einer privaten Schule, in der Nachbarschaft oder weit weg.

Die Bewegung unterstützt zudem sogenannte Charter Schools: Sie sind öffentlich, werden aber in der Regel von Unternehmen oder Privatleuten betrieben. Inzwischen gibt es sie fast überall in den USA, besonders viele in Michigan.

Im Gegensatz zu den Public Schools sind sie von den meisten staatlichen Regulierungen befreit - es gibt weniger Vorschriften darüber, was und wie im Unterricht behandelt wird oder wer überhaupt unterrichten darf. Befürworter argumentieren, dass so auch neue, experimentelle Unterrichtsformen möglich sind und die Bedürfnisse der Kinder besser erfüllt werden.

DeVos liebt Charter Schools und vor allem die freie Schulwahl. Und sie konnte US-Präsident Donald Trump überzeugen: Im ersten Haushaltsentwurf spendiert er dem Programm 1,4 Milliarden Dollar mehr. Zur Gegenfinanzierung streicht er einer Initiative für Nachmittagsangebote und Sommercamps fast die gleiche Summe.

Konkurrenzkampf ums Geld

Für Schulen wie Mason eine Katastrophe: Wie viele andere Public Schools kämpft sie mit Geldsorgen. Und mit jedem Kind, das an eine Charter School oder Privatschule wechselt, schrumpft das Budget. Denn in den USA werden Schulen über die Zahl ihrer Schüler finanziert. In einer Stadt wie Detroit, die wegen der schweren Finanzkrise Zehntausende Familien verlassen haben, verschärft der Wettbewerb die Situation weiter.

An allen US-Schulen finden im Oktober und im Februar sogenannte Zähltage statt - für jeden dann angemeldeten Schüler überweist der Staat einen bestimmten Betrag. Die Höhe hängt davon ab, wie gut die jeweilige Stadt oder Gemeinde finanziell dasteht: In New York gibt es pro Schüler im Schnitt mehr als 18.000 Dollar, in Idaho nur rund 5800. Michigan liegt mit knapp 10.000 Dollar im Mittelfeld. Allerdings weicht der Betrag je nach Stadt nach oben oder unten ab. Laut US-Bildungsministerium beträgt der Unterschied zwischen Schulen in armen und reichen Bezirken im Schnitt 15,6 Prozent.

Aus Sicht von Lehrer Gardener geht es Betreibern von Charter Schools häufig nur um dieses Geld: "Sie gucken die Kinder an und sehen Dollarzeichen", schimpft er. Tatsächlich ist der Anteil der Charter Schools, die profitorientiert arbeiten, in Michigan mit 80 Prozent sehr hoch. Die Schule wird zum Unternehmen - alles, was nicht für die Schüler ausgegeben wird, steckt sich der Betreiber als Gewinn in die Tasche. Um die Ausgaben zu senken, stellen diese Schulen zum Beispiel billige Lehrkräfte ohne Zertifikat ein, erklärt Terrence Martin von der Detroit Federation of Teachers, einer Gewerkschaft für Lehrer. Am Ende dieser Entwicklung könnte die Bildung in den USA weitestgehend in der Hand von Unternehmen liegen.

Boom der Charter Schools

Tatsächlich hat sich die Schullandschaft in Detroit drastisch verändert, seitdem das im Nordosten der USA gelegene Michigan 1993 Charter Schools erlaubte. Im gesamten Bundesstaat wurden solche Schulen gegründet, doch Detroit erlebte einen regelrechten Boom: Im Jahr 2000 gab es bereits 46 Charter Schools, 15 Jahre später hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Die einzige Stadt in den gesamten USA mit mehr Schulen dieses Typs ist New Orleans.

Gleichzeitig schlossen von den 288 Public Schools, die es im Schuljahr 2000/2001 in Detroit noch gab, 195. Von den 100.000 Schülern, die auf die öffentlichen Schulen der Stadt gehen, besuchen heute weniger als die Hälfte eine Public School.

Kein Geld, keine Alternativen

Eines dieser Kinder ist Shoniqua Kemps jüngste Tochter Imami. Die 15-Jährige besucht die Osborn High School. Wie Mason und viele andere von der Schließung bedrohten Schulen liegt sie im armen Osten der Stadt. "Die meisten Menschen hören nur Schlechtes über die Schulen hier, und natürlich gibt es aufs und abs", sagt Kemp. "Aber die Schule ist für meine Tochter auch ein Stück Zuhause, sie kennt die Nachbarschaft, sie kennt die anderen Kinder - das ist viel wert."

Kemp beschwert sich nicht gerne, sucht lieber nach Lösungen. Sie geht zu Schulsitzungen, engagiert sich für einen sicheren Schulweg. Aber jetzt? "Ich weiß nicht, was aus meiner Tochter wird, wenn ihre Schule wirklich schließt", sagt sie.

Auf dem Papier kann sich Familie Kemp für jede andere öffentliche Schule entscheiden - möglichst eine bessere. In Detroit gar nicht so leicht: 92 Public Schools aus Detroit - also fast alle - gehören zu den schlechtesten 25 Prozent im ganzen Staat. "Alle anderen Schulen in der Umgebung stehen auch auf der Liste", sagt Mutter Kemp. Um überhaupt eine der besseren Schulen zu erreichen, müsste sie ihre Tochter morgens meilenweit fahren.

Und die von Bildungsministerin DeVos angepriesene Alternative ist für sie keine: Es gibt keine Charter School in ihrer Nähe. Hinzu kommt, dass die Charter Schools nicht besser abschneiden als die Public Schools: Bei den Mathe- und Lesekompetenzen der Kinder gibt es kaum Unterschiede.

Wer es sich leisten kann, zieht deshalb aus dem Stadtzentrum Detroits in die wohlhabenden Vorstädte. Andere melden zumindest ihre Kinder dort auf den Schulen an und nehmen lange Wege in Kauf. Einige Eltern aus dem Osten der Stadt bringen ihre Kinder auch jenseits der "Eight Mile Road" in die Schule, jener berühmten Grenze zu den Vierteln der reicheren Mittel- und Oberschicht.

Kemp hat nicht das Gefühl, dass sie dort willkommen ist. Sie braucht eine Schule in der Nachbarschaft. An einem kalten Februartag steht sie deshalb vor dem Fisher Building in Detroit und demonstriert mit Hunderten anderen gegen die Schulschließungen. "Rettet unsere Kinder, rettet unsere Schulen", rufen sie auf dem Gehweg. Oben im Turm des Gebäudes sitzen die Verantwortlichen für die Detroit Public Schools.

"Zurück in die Segregation"

"Wir haben hier einen Vorgeschmack auf Betsy DeVos' Politik bekommen, es ist ein Kampf ums Überleben", sagt Lehrer Gardner. All die Schulschließungen der vergangenen Jahre hätten nicht dazu geführt, dass sich das Bildungsniveau in der Stadt verbessert habe. "Das führt uns zurück in die Segregation: Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf die besseren Schulen und alle andere, die Armen, Schwarzen gehen auf die letzten, schlechten öffentlichen Schulen", sagt Gardner. "Das ist doch keine Auswahl."

Quelle : spiegel.de

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