Hier bewegt sich der 62-jährige Trainer Christian Gross, der in den 1990er Jahren GC und nach 2000 den FC Basel zu mehreren Titeln und Champions-League-Teilnahmen geführt hat. Abgesehen von einem kurzen, selbstgewählten Unterbruch trainiert er seit 2014 al-Ahly. Gross ist immer noch oder wieder da, in dieser Wüstenstadt, die gefühlt noch weiter entfernt liegt als 4000 Luftkilometer vom Stadtzürcher Quartier Höngg, in dem er aufgewachsen ist.
Live-Übertragung aus Mekka
Das Heimspiel von al-Ahly ist auf 20 Uhr 40 angesetzt. Der naive Europäer denkt an Vorgaben der Fernsehanstalten. Falsch. Der Anpfiff ist ans letzte der fünf täglichen Gebete geknüpft, das zuvor stattzufinden hat. Auf zwei Grossbildschirmen im Stadion wird live eingespielt, wie sich Pilger in Mekka im Kreis um die Kaaba bewegen, die würfelförmige heilige Stätte. Dazu ist aus Lautsprechern der Muezzin zu hören, dessen eindringlicher Gesang im riesigen Stadion durch Mark und Bein fährt. Im Bauch des Stadions gibt's neben Umkleidekabinen und sanitären Einrichtungen einen Gebetsraum.
Zürich Höngg ist weit weg.
An einem Festival in der Altstadt von Jidda wird Gross nicht von Autogrammjägern aufgesogen, nein, es werden mobile Kommunikationsgeräte gezückt und unablässig Bilder geschossen. Er sei noch nie so oft abgelichtet worden wie in Saudiarabien, sagt Gross. Ein Selfie hier, eine Pose dort. «Coach, coach, picture, picture» – «Groooooss». Der Schweizer wird von einem Touristenführer durch das Festivalgewühl gelotst. Die Aufregung erfasst auch unter dem Nikab verhüllte Frauen, die den auf einem Podium sitzenden Coach zu fotografieren beginnen. Es ist ein bizarrer Akt, der nicht Theater, sondern Realität ist. Gewöhnungsbedürftig, immer wieder. Einen Moment lang steht Gross vor einer schwarzen Wand, vor Frauen, von denen nur Augen zu sehen sind.
Auf die Rolle der Frau spielt der rumänische Trainer Laszlo Bölöni an, der 2015 kurz für al-Ittihad arbeitete, den Stadtrivalen von al-Ahly. Er will nicht lange über das «spezielle Abenteuer» reden, wünscht aber eine schöne Reise und würzt den Satz mit einem Schuss Zynismus: «Am besten nehmen sie das nächste Mal Ihre Frau mit nach Saudiarabien. Ihr wird es ausserordentlich gut gefallen dort.» Der Europäer tut sich in Jidda wiederholt schwer. In Restaurants und Hotels halten sich Frauen nur im Familiensektor auf, in Cafés sind sie weder als Gäste noch als Angestellte zu sehen, sie dürfen nicht Auto fahren und nicht ins Fussballstadion gehen, und sie brauchen für Reisen die Unterschrift ihres Mannes.
«Es gibt ein wunderbares Menu, und mir wird mitgeteilt, dass die Frau drei Stunden lang gekocht habe. Doch die Frau sehe ich den ganzen Abend lang nicht.», sagt Christian Gross, Trainer von al-Ahly.
Damit wird Christian Gross konfrontiert, obschon er und seine Assistenten wie andere Expats in einem abgeschlossenen, bewachten Compound leben, in dem westliche Regeln gelten und Einheimische keinen Zutritt haben. Im Innern des Compounds sind zwar zu den Gebetszeiten Muezzins von draussen zu hören, aber die Frauen auf dem Tennisplatz tragen ein Sporttenue, wie man das in Europa gewohnt ist.
Gross sagt, dass er sich mittlerweile an die Umstände gewöhnt habe. «Man muss einen Umgang damit finden», sagt er, «wenn ich privat zum Essen eingeladen bin, gibt es ein wunderbares Menu, und mir wird mitgeteilt, dass die Frau drei Stunden lang gekocht habe. Doch die Frau sehe ich den ganzen Abend lang nicht.» «Das Leben findet für einen Mann in Saudiarabien unter Männern statt. Das ist einfach so. Das muss man akzeptieren, wenn man hier lebt.»
Mehr daran zu nagen hatte anfänglich nicht Gross, sondern seine Partnerin aus der Schweiz, die ihn alle drei Wochen besucht. Bölöni lässt grüssen. «Ängstlich, ehrfürchtig» sei der Zugang seiner Partnerin zum Land gewesen, erzählt Gross, aber das habe sich inzwischen gelockert.
Saudiarabien ist für Westler eine permanente Herausforderung. Gross kann sich in den Compound und in die Fussball-Blase (Hotel, Transfer, Flughafen, Stadion, Spiel, Training) zurückziehen. Er tut dies bisweilen gezielt und auch deshalb, weil der Tagesrhythmus oft genug vorgegeben ist. Doch die fremde Welt nimmt ihn immer wieder in Beschlag. Nicht nur, wenn das Training wegen des Gebets unterbrochen wird.
«Hier spüre ich, wie gross und komplex die Welt ist. Ich nehme Spannungen wahr, obschon ich im Compound lebe.», sagt Christian Gross, Trainer von al-Ahly.
Die Arabische Halbinsel ist kein Hort der Sicherheit. Im Süden ist Krieg in Jemen, weiter im Norden ist Krieg in Syrien, starke saudische Ressentiments gegenüber Iran herrschen vor, Sunniten, Schiiten, und auf der Titelseite der englischsprachigen Zeitung «Arab News» wird der US-Präsident Donald Trump mit grossem Bild, erhobenem Daumen und der Schlagzeile «Yes, he can!» abgefeiert. «Hier spüre ich, wie gross und komplex die Welt ist. Ich nehme Spannungen wahr, obschon ich im Compound lebe. Die Schweiz ist ein beschaulicher Flecken. Vielen Ländern geht es nicht gut. Aber ich habe letztlich auch aus rein sprachlichen Gründen nur beschränkt Einblick.»
Direkt ist die Auseinandersetzung mit der arabischen Kultur in der Mannschaft. Al-Ahly hat etliche saudische Nationalspieler unter Vertrag, dazu gesellen sich vier Ausländer – ein Ägypter, ein Grieche, ein Iraker und der Syrer Omar al-Somah. Der 28-jährige Stürmer kam wie Gross 2014 zu al-Ahly und führt mit 22 Toren das Torschützenklassement der Liga an. Er ist der Star, hat aber schwierige Jahre hinter sich. 2011 verliess er wegen des Bürgerkriegs Syrien und kam in Kuwait unter, weil er in einem Test auf sich aufmerksam gemacht hatte. Jetzt beherbergt al-Somah in Jidda in zwei Häusern 13 Familienmitglieder. 70 Prozent der Familie seien hier, «andere sind in Ägypten und in der Türkei», sagt al-Somah. Gross weiss um den Wert seines Stürmers: «Seine Geschichte ist ungewöhnlich. Er ist dauernd daran, Arbeitsbewilligungen für Familienmitglieder zu erhalten. Aber das ist nicht so einfach. Er setzt den Klub damit unter Druck.»
In der Liga überleben, die Trainer verschleisst
bir. · Der Fussball in Saudiarabien kann es in sich haben und Gefühle transportieren, die Christian Gross aus London, Basel und Stuttgart kennt. In Jidda kommen über 50 000 ins königliche Stadion, wenn die Stadtrivalen al-Ahly und al-Ittihad aufeinandertreffen. Oder wenn der Tabellenerste al-Hilal herausgefordert wird, der in Riad zu Hause ist. Riad und Jidda stehen seit je in Konkurrenz zueinander. Es kann indessen auch sein, dass sich gegen andere Teams nur 6000 Personen in der grossen Arena verlieren. Die heterogene saudische Liga bietet anderswo auch Spiele vor 1500 oder noch weniger Zuschauern. Der Liga-Schnitt liegt bei 7000 bis 8000 Personen pro Match, al-Ahly hat durchschnittlich deren 24 000. Seit 2014 coacht Christian Gross den al-Ahly Saudi Football Club. Die Zeitspanne bedeutet in dieser Liga, die als Trainerschleuder gilt, ein halbes Leben. Die Liga führt Statistik: In der laufenden Saison totalisieren die 14 Vereine, von denen nur zwei einen saudischen Coach beschäftigen, bereits 19 Trainerwechsel. Warum ist das so? «Die Menschen in Saudiarabien können Negatives schlecht einordnen und erhoffen sich mit einem neuen Trainer Erfolg. Das ist hier gleich wie überall, nur noch stärker», sagt Gross, der fast nirgends eine längerfristige Strategie ortet – «zumindest spüre ich das nicht». Gross festigt seine Position mit Erfolgen. 2015 gewinnt er auf Anhieb einen Cup und 2016 das Double, den hoch eingestuften King's Cup und die Meisterschaft. Zwei Qualifikationen für die asiatische Champions League inklusive. Nach dem Double verlässt er al-Ahly, erhört jedoch nach drei Monaten den zweiten Ruf der Klubverantwortlichen. Im Moment ist die Mannschaft im dritten Rang klassiert, mehr als zehn Punkte hinter dem Leader al-Hilal. «Der Titel ist kaum mehr zu erreichen», sagt Gross, «aber wir müssen uns für den internationalen Wettbewerb qualifizieren und können abermals den King's Cup gewinnen.» Wer al-Ahly zuschaut, kommt nicht auf die Idee, dass dies eine Mannschaft von Gross sein könnte, eine, die sich kompromisslos in Champions-League-Vergleiche stürzt wie Basel in den besten Gross-Zeiten. Nein, al-Ahly zeichnet technisch versierter, südländischer Fussball aus. Das gründet auch in den Rahmenbedingungen. Jedes Team darf nur vier Ausländer in seinen Reihen haben, von denen laut Gross «fast Unmenschliches erwartet wird». Weshalb? «Die Einheimischen verlangen, dass sie jedes Mal die Entscheidung herbeiführen.» Ein anderer Grund für die begrenzte Wucht al-Ahlys ist das Wetter. Schon im April kann es im Stadion von Jidda auch spätabends drückend warm werden. Und noch ist nicht Sommer, wo es tagsüber oft gegen 45 und in der Nacht gegen 30 Grad warm wird. Zuweilen ist die Luftfeuchtigkeit hoch; im Sommer steigt sie noch an. «Im Stadion hat's wenig Luftzirkulation», sagt Gross. Deshalb werden Trinkpausen abgehalten. Die Spieler verlieren teilweise vier bis fünf Liter pro Spiel. «Das ist anders als in Europa, deshalb hüte ich mich auch vor Vergleichen mit der Schweiz», sagt er. Sein Assistent Laurent Hagist ist da mutiger. Er mutmasst, dass al-Ahly in der Schweiz gegen Basel um den Titel mitspielen würde. Gross kann sich vorstellen, auf der arabischen Halbinsel zu bleiben. Nicht die Schweiz, aber die Super League hat er hinter sich gelassen. Mit seiner Art und seinen Sprachkenntnissen scheint er in Jidda anzukommen. Aber es muss ja nicht zwingend Jidda sein.
Wenn Gross mit dem Stürmer reden will, ist er auf den Übersetzer mit der Rastafrisur angewiesen, der ihm auch an der Seitenlinie und an Medienkonferenzen beisteht. Englisch, Arabisch, Arabisch, Englisch. Alles eine Frage des Vertrauens. Nach einem siegreichen Spiel sucht al-Somah in Begleitung des Übersetzers Gross in dessen Kabine auf. Er will den Trainer im Kreis seiner Familie zu einem syrischen Essen einladen. Gross schlägt vor, dass er doch das ganze Team begrüssen soll. Und so tafelt ein paar Tage später das Team auf Kosten al-Somahs unmittelbar neben dem Trainingsplatz im Al-Ahly-Stadion an Tischen mit weissen Tischtüchern unter freiem Himmel. «Auch das gehört zu Jidda. Das habe ich so noch nie erlebt», sagt Gross.
Gespart wird beim Catering neben dem Trainingsplatz nicht. Sparen ist ohnehin ein Fremdwort in Saudiarabien, wo das Öl zu Reichtum geführt hat und im öffentlichen Leben die Mobilität sowie die Energie- und Wassergewinnung auf Öl(-Kraft) ausgerichtet sind.
Gross hat in Jidda den «besten Vertrag meiner Karriere», wie er sagt. Das will etwas heissen, zumal Gross am Ende in Basel einen guten siebenstelligen Kontrakt hatte. Die Spieler verdienen umgerechnet zwischen 500 000 und 2 Millionen Franken pro Jahr. Alles steuerfrei. In Saudiarabien zahlt niemand Steuern.
«Man darf nicht erschrecken, wenn Minuten vor dem Spiel gebetet wird.», sagt Christian Gross, Trainer von al-Ahly.
Am vielen Geld ändert auch die Tatsache nichts, dass die ökonomische Lage im Land wegen des Ölpreises und wegen des Krieges in Jemen instabiler als auch schon geworden ist. Aber aus gewissen Quellen sprudelt immer noch viel Geld. «Ich wäre nie hierhergekommen, wenn Geld für mich existenziell gewesen wäre. Das würden sie spüren. Deshalb muss man Eigenständigkeit demonstrieren. Und auch haben», sagt Gross, der etwa am Verhandlungstisch auch dem Klubeigner Prinz Khaled gegenübersitzt, einem Sprössling des Königshauses. Auch deshalb rät er jüngeren Trainern von diesem Schritt ab. Man brauche neben Trainer- auch Lebenserfahrung, sagt Gross, «man muss auch eine gewisse Gelassenheit entwickeln. Das lernte ich schnell. Und das tat mir gut. Man darf nicht erschrecken, wenn Minuten vor dem Spiel gebetet wird.»
Wenn Geld vom Himmel fällt
Als sich Gross in der Altstadt von Jidda aufhält, wird für ihn am Himmel einer imposanten Zeltkuppel die 8-minütige Videoshow des Festivals vorgeführt. Saudiarabien hat sich die Vision 2030 zum Ziel gemacht. Transformation in ein neues Zeitalter. Weg vom Öl. Der PR-Film ist nicht im Sparmodus produziert. Sein Inhalt zeigt in Comic-Bildern die Entwicklung Jiddas, vom Beduinenort mit 40 000 Einwohnern Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Über-5-Millionen-Stadt von heute, die saudisches Öl reich gemacht hat und die sich gegen Norden weiter ausbreitet.
Gross findet Gefallen daran, dass im Video das vom Königshaus finanzierte und 2014 eröffnete King Abdullah Sports City Stadium mit 60 000 Sitzplätzen als Errungenschaft gezeigt wird. Zu sehen ist im Film auch, wie in Form von goldenen Münzen unendlich viel Geld vom Himmel regnet und wie das Geld so lange auf den König Abdelaziz ibn Saud fällt, bis der Staatsgründer zugedeckt ist. Im Geld ertrinken? Man könnte in dem Augenblick meinen, ein Künstler aus dem Westen habe sich des Themas Saudiarabien angenommen.
Viel ist anders für Gross als früher in Europa. Aber einiges ist gleich geblieben. Der nach wie vor erfolgreichste Schweizer Trainer steht im modernen Stadion von Jidda an der Seitenlinie, bald mit verschränkten Armen, bald in Denkerpose, bald mit den Händen in den Hosentaschen, Anweisungen schreiend, sich mit seinem langjährigen Assistenten Laurent Hagist beratend. Wie früher in Zürich, Basel und Bern. Auch im Umgang mit den Medien. Als er an einer Medienkonferenz von einem jungen Journalisten gefragt wird, ob er noch Energie habe, antwortet er via Übersetzer: «Darf ich fragen, wie alt Sie sind?» Der Fragesteller ist dreissig. «Ich bin über Ihre Frage überrascht», entgegnet Gross freundlich-fordernd, «natürlich habe ich noch Energie. Ich hoffe sehr, dass auch Sie noch voller Energie sind.»
Erschienen auf nzz
Tags: