Nicht nur der Wahnsinn hat Methode, auch für Genialität gibt es ein Geheimrezept. Es heißt TRIZ und kommt aus Russland. Hinter dem Akronym verbergen sich die russischen Wörter "Teoria reschenija isobretatjelskich sadatsch". Die deutsche Übersetzung dazu lautet "Theorie des erfinderischen Problemlösens". TRIZ ist also eine Methodik für systematisches Erfinden.
Genrich Saulowitsch Altschuller, ein russischer Ingenieur und Erfinder, erarbeitete TRIZ bereits in den 1950er Jahren. Heute gehört es zum Standardrepertoire bei der Produktentwicklung in den Abteilungen für Forschung und Entwicklung führender Technologiekonzerne. Diverse Schulen haben in den letzten Jahrzehnten die ursprüngliche Systematik Altschullers in verschiedenste Richtungen weiterentwickelt.
Erste Pionierarbeiten im Mittelalter
Im Kern dient TRIZ der Strukturierung des Denkprozesses, nämlich dann, wenn es für Ingenieure eine besonders harte Nuss zu knacken gibt. TRIZ ist ein mentaler Werkzeugkasten, mit dem sich scheinbar unlösbare technische Probleme entwirren lassen und schrittweise zu einer Lösung führen. Das "Heureka!" muss also nicht dem Zufall überlassen bleiben.
Der Grundgedanke hinter dem Konzept ist nicht neu. Schon im Mittelalter gab es Ansätze, kreatives Chaos im Kopf zu ordnen. Der Mönch Ramon Llull entwarf in seiner Ars Magna (zu Deutsch: "Große Kunst") ein kombinatorisches Verfahren. Dabei wurden theologische Begriffe nach vordefinierten Regeln verknüpft. Der Knobler sollte nach und nach die ultimative Wahrheit herausfinden, es war sozusagen eine Mindmap, um dem Welträtsel auf die Schliche zu kommen.
Heute gilt Ramon Llull, der auch Doctor Illuminatus genannt wird, als Vordenker algorithmischer Denkkunst. Algorithmus bedeutet dabei nichts anderes, als Lösungsansätze solange zu variieren, bis eine Lösung für das Problem gefunden worden ist.
Auch der berühmte Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz verfasste mit De Arte combinatoria ("Über die Kunst der Kombination") und Ars inveniendi ("Kunst des Erfindens") Regelwerke, um bislang unentdeckte wissenschaftliche Erkenntnisse zu ermitteln.
Die meisten Erfindungen bauen auf gegebenen Entwicklungen auf
Altschuller war in ähnlicher Weise ein intellektueller Tausendsassa wie Llull und Leibniz. Neben seiner Tätigkeit als Erfinder schrieb er unter dem Pseudonym Genrich Altow fantastische Erzählungen und Romane. Im Alter von 14 Jahren tüftelte Altschuller an einer neuartigen Ausrüstung für Taucher und baute einen eigenen Bootsmotor zusammen. Als junger Mann ging er zur russischen Marine, wo er den Grundstein für TRIZ legen sollte. Seine Zeit beim Militär verbrachte er vor allem damit, Patente durchzusehen. Insgesamt sollen es mehr als 200.000 gewesen sein.
Altschuller machte eine entscheidende Beobachtung: Die meisten Innovationen waren nur Verbesserungen der Technik, echte technologische Neuheiten waren selten. Lediglich ein Prozent der von ihm studierten Patente enthielten Bahnbrechendes. In der Masse von Patenten entdeckte Altschuller wiederkehrende Problemlösungsmuster, die er Innovationsprinzipien nannte. In diesem Zusammenhang identifizierte er 40 solcher Faustregeln für den technischen Durchbruch.
Dieses Meisterstück der Patentanalyse gelang ihm unter den denkbar schwierigsten Bedingungen. Wegen seiner kritischen Haltung zur sowjetischen Forschungspolitik war Altschuller bei Stalin in Ungnade gefallen. Er wurde nach Workuta nördlich des Polarkreises in den Gulag geschickt.
Wissenschaftlicher Austausch unter Gulag-Bedingungen
Die schweren Jahre im Gulag zählen jedoch zu Altschullers produktivsten. Das lag vor allem an seinen Mitgefangenen, unter denen viele Gelehrte waren. Der Austausch und die vielfältigen Anregungen trugen maßgeblich zur Ausarbeitung von TRIZ bei. Altschuller lernte unterschiedliche Wissensgebiete, darunter Mathematik, Logik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen, kennen.
Seine eigenen Ideen stießen bei den anderen Häftlingen auf reges Interesse. Altschuller schulte das, was man heute als laterales Denken bezeichnet, nämlich die Fähigkeit, Zusammenhänge zwischen ganz unterschiedlichen Themen assoziativ herzustellen.
Mitte der 1950er Jahre wurde Altschuller aus der Haft entlassen und rehabilitiert. In den darauffolgenden Jahren verdichteten sich seine Vorarbeiten auf dem Gebiet der Innovationsforschung zu einem voll ausgereiften Methodenwissen, einem Leitfaden zum gezielten Einsatz des menschlichen Erfindergeistes.
Im Zentrum des Ansatzes steht dabei der Begriff des Widerspruchs. Die anzustrebende technische Lösung liegt demnach in der Überwindung eines Widerspruchs. Für Altschuller liegt ein Widerspruch dann vor, wenn drei Bedingungen erfüllt sind.
Erstens: Es gibt einen angestrebten Zustand innerhalb eines System. Zweitens: Es gibt einen herkömmlichen Weg, diesen Zustand herbeizuführen. Und drittens: Das Zustandekommen des angestrebten Zustands wird durch schädliche Faktoren gehemmt.
TRIZ und das Problem der Elektromobilität
Altschullers Herangehensweise zur technischen Problemlösung lässt sich am besten anhand eines konkreten Beispiels veranschaulichen. So ist heute Elektromobilität im Kommen. In vielen Großstädten schießen elektrische Zapfsäulen, an denen Elektroautos Strom tanken, aus dem Boden. Das Aufladen eines Elektroautos dauert allerdings um ein Vielfaches länger als das Auftanken eines Benziners.
Der angestrebte Zustand besteht darin, flächendeckend Ladebuchsen für Elektroautos zur Verfügung zu stellen. Der herkömmliche Weg, um dieses Ziel zu erreichen, beläuft sich auf das Aufstellen von Vorrichtungen, die Strom spenden und den Zapfsäulen an Tankstellen nachempfunden worden sind. Langfristig wird dieses Konzept den Bedarf an Ladestellen aber nicht decken können. Das ist der Hemmfaktor.
Was ist zu tun? Der technische Widerspruch liegt in der Unvereinbarkeit einer adäquaten Stromversorgung mit den räumlichen Gegebenheiten im öffentlichen Raum. Nach Altschullers Methode trägt man nun Zielzustand und Hemmnis in eine so genannte Widerspruchsmatrix ein. Diese besteht aus 39 Zeilen und 39 Säulen, von denen jede jeweils eine bestimmte technische Eigenschaft eines Systems repräsentiert.
Der Zielzustand wird nun in die Horizontale eingetragen, das Hemmnis in die Vertikale. In dem genannten Szenario könnte man für den Zielzustand, d. h. für einen platzsparenden Ladevorgang von Elektroautos, die 21. Zeile wählen: "Energieverbrauch des beweglichen Objekts".
Das Hindernis, also die Sperrigkeit vieler nebeneinander aufladender Elektroautos, wäre in der fünften Säule unter der Rubrik "Fläche des beweglichen Objekts" zu finden. Der technische Widerspruch lautet also "Energieverbrauch versus Fläche des beweglichen Objekts". Das konkrete Problem lässt sich auf diese Weise abstrakt ausdrücken.
Jenes Feld in der Matrix, das sich aus der Kombination der gewählten Zeilen ergibt, enthält drei empfohlene Innovationsprinzipien, die Nummern 15, 19 und 25 zur Auflösung des technischen Widerspruchs. Von der abstrakten Beschreibungsebene kehrt man nun zurück zum Einzelfall. Das vorgeschlagene 15. Innovationsprinzip ("Dynamisierung") enthält beispielsweise die Anweisung: "Ein insgesamt unbewegliches Objekt ist beweglich (verstellbar) zu gestalten."
Das unbewegliche Objekt kann in dem geschilderten Fall nur die Zapfsäule sein. Sie muss verstellbar werden. Das 25. Innovationsprinzip ("Prinzip der Selbstbedienung") wiederum besagt: "Das Objekt soll sich selbst bedienen sowie Hilfs- und Reparaturmaßnahmen selbst ausführen". Also muss das Elektroauto sich selbst betanken können.
Zusammengefasst: Die Zapfsäule verschwindet und wird zu einer druckempfindlichen Parkbucht. Wenn ein Elektroauto darauf parkt, fährt automatisch ein Stecker aus dem Boden und startet den Ladevorgang. Parkzeit wird zur Ladezeit.
Was wie Zukunftsmusik klingt, könnte schon morgen Realität sein. Wenn nicht in Hamburg oder Berlin, dann vielleicht in St. Petersburg oder Moskau.
Erschienen auf rt deutsch
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