Der Jungfernflug des bis dahin einzigen deutschen Passagierflugzeugs mit Düsenantrieb ist ein voller Erfolg. Die Mitarbeiter jubeln. "Es war eine euphorische Stimmung", erinnert sich Gerhard Güttel. Er ist damals 35 Jahre alt, Testpilot in den Dresdner Flugzeugwerken und am Tag des Erstflugs einer von vielen Zuschauern auf dem Rollfeld. Bis zum Schluss hatte er gehofft, als erster die "152" fliegen zu dürfen, doch dann wurde sein Kollege Willi Lehmann bestimmt - ein Umstand, der Güttel nur drei Monate später das Leben retten sollte. "An Gefahren haben wir damals nicht gedacht", sagt Güttel heute.
Wie auch, waren doch alle Kräfte darauf gerichtet, dieses supermoderne Flugzeug zu einem Erfolg zu machen. SED-Chef Walter Ulbricht hatte das Unternehmen zum Prestigeprojekt erklärt, auch wenn die Terminvorstellungen des Diktators mit den realen Möglichkeiten der sozialistischen Planwirtschaft kollidierten, weil Materialmangel und die Flucht von Entwicklern in den Westen das Projekt immer wieder zurückwarfen. Doch wie groß die Probleme wirklich waren, wussten sieben Monate vor dem erfolgreichen Erstflug nur wenige eingeweihte Mitarbeiter.
Attrappen unter den Flügeln
Am 30. April hatte die DDR-Staatsführung eine triumphale Show auf dem Dresdner Flughafen inszenieren lassen, um die "152" der Weltöffentlichkeit gebührend zu präsentieren. Auch Walter Ulbricht ist persönlich angereist und schaut zu, wie das Flugzeug aus der Halle gezogen und symbolisch übergeben wird. "Es war eine fast überbordende Begeisterung", erinnert sich Güttel.
Doch einen Probeflug gibt es nicht, denn der Supervogel kann zu diesem Zeitpunkt weder starten, ja noch nicht einmal aus eigener Kraft rollen: Die Triebwerke sind nur Attrappen und die Technik noch längst nicht reif für die Lüfte. Doch Ulbricht besteht auf dem Präsentationstermin, und um ihn einzuhalten, erfinden die Genossen kurzerhand den Bauzustand "hallenfertig" und verpflichten die streng abgeschirmte Entwicklungsabteilung zur Verschwiegenheit.
"Es gab zwar Gerüchte, aber wir wussten wie die meisten Mitarbeiter nicht, dass das Ding hohl ist", erzählt Güttel, der wie viele der rund 3000 Dresdner Flugzeugwerker vom Gelingen des Projekts fest überzeugt war. "Wir guckten nicht auf die Uhr, arbeiteten nach Feierabend und machten auch am Wochenende freiwillig Überstunden." Die überschwänglichen Reaktionen nach Roll-out und geglücktem Erstflug bestärkten sie, nicht zuletzt weil auch der Westen den Technik-Triumph registrierte: "Die Zone will Düsenflugzeuge bauen", schrieb etwa die "FAZ", "Wirtschaftswunder aus Dresden" titelte die "Welt".
West-Autos für die Düsentüftler
Mit solchen Schlagzeilen im Rücken hoffte Ulbricht, dem Westen zeigen zu können, wozu der ganze achteinhalb Jahre alte Arbeiter- und Bauernstaat fähig war. Für den Traum vom Weltniveau mit Superjet hatten seine Genossen binnen kurzer Zeit auf dem Gelände der ehemaligen Luftkriegsschule im Dresdner Norden ein modernes Flugzeugbauzentrum aus dem Boden gestampft und Luftfahrtspezialisten der früheren großdeutschen Flugzeugindustrie mit überdurchschnittlicher Bezahlung, modernen Wohnungen und Westautos gelockt.
Kopf der Entwicklertruppe wurde der ehemalige Chefkonstrukteur der Dessauer "Junkers"-Werke, Brunolf Baade, der wie viele seiner Ingenieure während der Gefangenschaft in der Sowjetunion bereits an Militär-Düsen-Fliegern gearbeitet hatte. Von dort brachte er auch erste Entwürfe für ein "Strahlverkehrsflugzeug 15.2" mit, das er nun in einer eigens dafür errichteten Fertigungshalle weiter entwickelte.
Nach dem geglückten Erstflug im Dezember 1958 hoffen die Mitarbeiter auf den ganz großen Durchbruch. Ende März 1959 soll der Prototyp ein zweites Mal in die Lüfte steigen; die Serienfertigung lief mit 8000 Beschäftigten bereits auf Hochtouren. Doch wieder waren es Ulbrichts Ehrgeiz und Eitelkeit, die den Flugzeugbauern einen Strich durch die Rechnung machten - diesmal allerdings einen weitaus folgenschweren als beim Roll-out.
Schwarzer Rauch am Horizont
Weil sich KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow zur Leipziger Frühjahrsmesse angesagt hatte, wollte Ulbricht seinen neuen Superflieger präsentieren, um den großen Bruder gebührend zu beeindrucken. Der zweite Flug der "152" wurde kurzerhand auf den 4. März vorverlegt - obwohl die Ingenieure Bedenken ob der Hektik äußerten. Denn zusätzlich zum Termin in Leipzig hatten die Genossen auch noch Werbeaufnahmen in Dresden angesetzt. Dazu sollte die "152" mehrmals in geringer Höhe über die Start- und Landebahn des Flugfelds in Dresden-Klotzsche fliegen - ein Manöver, das mit der Maschine bisher noch nie probiert worden war.
So hob die "152" am 4. März um 12:56 Uhr mit der gleichen Besatzung wie beim Erstflug völlig normal in Dresden ab. Sie flog zunächst routiniert das eigentlich für Ende des Monats geplante Versuchsprogramm ab. Nach einer knappen Stunde machte sich auf dem Flugplatz die angereiste Filmcrew bereit, den Vorbeiflug der "152" auf Zelluloid zu bannen. Gespannt starrte das Team gen Osten. Als die Maschine auf sich warten ließ, machte sich Unruhe breit. Dann erschien am Horizont eine schwarze Rauchsäule - genau in der Richtung, aus der das Flugzeug hätte eintreffen sollen. Kurz darauf wurde die böse Ahnung zur Gewissheit: Die Maschine war im Sinkflug fünf Kilometer vor dem Flughafen abgestürzt. Die vier Besatzungsmitglieder sind tot.
Der Schock war groß - doch das ehrgeizige Programm sollte auf keinen Fall gefährdet werden. So erfolgte die Untersuchung des Unglücks im Geheimen, die Ergebnisse blieben unter Verschluss. Offiziell lautete die Ursache "Bedienfehler" - doch auch Gerüchte von technischem Versagen bis hin zu westlicher und russischer Sabotage machen bald die Runde.
Mulmiges Gefühl
Die Katastrophe wurde für Gerhard Güttel zur Chance: Er wurde zu einem von zwei neuen Testpiloten ernannt. Im August 1960 war es soweit. "Mit äußert mulmigem Gefühl", so Güttel, seien er und sein Co-Pilot Heinz Lehmann ins Cockpit des neuen Prototyps gestiegen. Doch der Flug verlief problemlos, genauso wie ein zweiter kurze Zeit später.
Die Flugzeugbauer spürten neue Hoffnung und legten sich einmal mehr ins Zeug - wohl wissend, dass der Entwicklungsrückstand inzwischen groß war und die Konkurrenz im Ausland aufgeholt hatte. Letzteres allerdings wusste auch die DDR-Führung. Offiziell hielt sie an dem Projekt fest, aber nach der Stornierung einer Großbestellung von mehreren hundert Maschinen durch die Sowjetunion im Juni 1960 senkte sie intern den Daumen. Die Entwicklungsarbeit an Nachfolgemodellen der "152" wurde unterbunden.
Die Dresdner Entwickler erfuhren erst Mitte März 1961 offiziell vom Aus für das Vorzeigeprojekt - es war zugleich das Ende vom Traum einer eigenen DDR-Luftfahrtindustrie. Alle Mitarbeiter mussten von einem Tag auf den anderen beseitigen, was sie bisher mit aufgebaut hatten - kein Prototyp, keine Serienfertigung, keine Produktionsanlage durfte übrig bleiben, alles musste zerlegt, zerstört, verschrottet werden. "Wir waren alle am Boden", sagt Gerhard Güttel rückblickend.
Das letzte Original
Über den geplatzten Traum vom sozialistischen Jetliner wurde in der DDR fortan geschwiegen. Erst 30 Jahre später wurde die sagenumwobene "152" erneut zum Thema. Denn nach dem politischen Umbruch von 1989/90 entdeckten ein paar Flugbegeisterte auf einem kleinen Flugplatz in der Oberlausitz den Rumpf einer "152" mit der Fertigungsnummer 11, der mittlerweile als Materiallager diente.
Heute ist das letzte Originalzeugnis des DDR-Traums vom eigenen Verkehrsflugzeug, restauriert vom Verkehrsmuseum Dresden, am Flughafen der Elbmetropole zu besichtigen. Und in Stasi-Unterlagen findet sich nach der Wende schließlich auch der offizielle Untersuchungsbericht zum Unglück von 1959: Kein Bedienfehler, keine Fehlkonstruktion, nur ein winziger technischer Defekt in der Treibstoffleitung besiegelte die hochfliegende Vision der DDR vom Weltniveau über den Wolken.
Quelle : spiegel.de
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