Die Kiewer lieben ihre Stadt auch und werden gegenüber ihren Gästen nicht müde, auf die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die die ukrainische Hauptstadt bietet, hinzuweisen: Höhlenkloster, Sophienkathedrale, Klosterkirche St. Michael, Maidan usw. Aber im Gegensatz zu dem Besucher, der nur ein paar Tage in der zweifellos schönen und geschichtsträchtigen Stadt verbringt, hat der Einheimische in seinem täglichen Leben mit zahlreichen Unwägbarkeiten zu kämpfen, die auch durch den zwischenzeitlichen Aufenthalt der ESC-Karawane nicht verschwinden.
Trotz aller Bemühungen - das Stadtzentrum wurde für den Gesangswettbewerb herausgeputzt und die zahlreichen Grünflächen einer Generalüberholung unterworfen - ist doch sichtbar, dass es der Millionenstadt am Dnjepr finanziell nicht gut geht. Wie die territorial geschrumpfte Ukraine, die erst vor kurzem eine Milliardenüberweisung von der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds erhalten hat und noch weitere Milliarden erhalten wird, wandelt auch Kiew am Rande des Bankrotts.
Und die Probleme sind nicht zu übersehen: Der Zustand der Straßen ist vor allem außerhalb des Zentrums teilweise katastrophal, die Kiewer Metro - auch Pidsemka genannt - muss ihr massives Transportaufkommen mit Zügen bestreiten, die zum Teil bereits in der Chruschtschow- und Breschnew-Zeit fuhren. Aber, und das ist für ein politisch und ökonomisch gebeuteltes Land wie die Ukraine wichtig: Trotz aller Widrigkeiten funktioniert das öffentliche Leben. Und sogar ein solches Großereignis wie den ESC bekommt man doch irgendwie "gebacken".
Scharfe Kritik aus Brüssel
An der ukrainischen Misere ist nicht nur Russland schuld, das den Einflussbereich der Kiewer Regierung territorial verkleinerte. Die Ukraine ist in ihrer gut zweieinhalb Jahrzehnte währenden Geschichte nicht gerade mit einer effektiv und seriös arbeitenden Politikerkaste gesegnet. Diese steht im Ruf, sich vor allem die eigenen Taschen vollzustopfen und weniger an das Gemeinwohl zu denken.
Das ist ein Problem für die neue Politikergeneration. Der nach den Maidan-Unruhen 2013/14 ins Kiewer Bürgermeisteramt gewählte Klitschko ist auch Vorsitzender des "Blocks Petro Poroschenko", der Partei des ukrainischen Präsidenten. Er ist damit auch ein Landespolitiker. Poroschenkos Umfragewerte sind kontinuierlich nach unten gegangen. Vor allem der Kampf gegen die in der Ukraine nach wie vor sehr verbreitete Korruption geht vielen Ukrainern nicht schnell und gründlich genug.
Sogar der EU-Rechnungshof hatte das mangelnde Reformtempo in der Ukraine kritisiert und mit dem Stopp der Finanzhilfen gedroht. Nach Angaben aus Brüssel ist unter Poroschenko, der übrigens auch zur Oligarchenkaste gehört, die Bekämpfung der Korruption ins Stocken geraten. Auf die im Parlament (Werchowna Rada) vertretenen Parteien würden Oligarchen massiven Druck und Einfluss ausüben.
Saakaschwilis Wut
Die Rada als Schauplatz für krumme Geschäfte? Für die Ukrainer ist das nichts Neues. Schon der im Februar 2014 gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch hatte seine eigene Bereicherung zum Ziel. Man sagt in Kiew, dass Parlamentssitzungen oft bis in die frühen Morgenstunden andauerten, weil am Rande der Sitzungen noch wichtige Geschäfte abgewickelt werden müssten. Diese laufen dann über eine ukrainische Beamtenschaft, die wegen ihrer geringen Bezüge äußerst empfänglich für Geldscheine außer der Reihe ist.
Ein Alarmzeichen war der Rücktritt von Michail Saakaschwili als Gouverneur des Gebiets Odessa. Der von Poroschenko geholte ehemalige georgische Staatschef verlor den Machtkampf gegen den Bürgermeister von Odessa, Gennadi Truchanow. Dieser kontrolliert die dortigen Wirtschafts- und Sicherheitsbehörden. Der ungeduldige und sprunghafte Saakaschwili, der 2008 einen aussichtslosen Krieg gegen Russland um Südossetien und Abchasien angezettelt hatte, gibt sich aber weiter kämpferisch. Er werde die Ukraine von dem "korrupten Pack" befreien, tönt er - notfalls mit einer eigenen politischen Partei. Der Georgier sieht sich als einen der wenigen Bewahrer der Errungenschaften der ukrainischen Revolution.
Flexibler "Schokoladenkönig"
Allerdings ist die Ukraine mit ihren Revolutionen bislang immer gescheitert. Nach der Orangenen Revolution 2004 verbissen sich Präsident Viktor Juschtschenko und Regierungschefin Julia Timoschenko ineinander in einem gnadenlosen Machtkampf. Nutznießer war der russlandfreundliche Raffzahn Janukowitsch mit seiner Partei der Regionen, der Timoschenko ins Gefängnis werfen ließ. Janukowitsch verzettelte sich mit seinem Versuch, die Ukraine zweigleisig fahren zu lassen: nach Russland und dessen euroasiatischer Wirtschaftsunion beziehungsweise gen Westen. Seit der Gründung des eigenständigen ukrainischen Staates 1991 ist es so: Die Präsidenten kamen und gingen - die Korruption blieb.
Und auch unter dem "Schokoladenkönig" Poroschenko grassiert sie weiter. Ob der politisch sehr flexible 51-Jährige, der unter dem "orangenen" Präsidenten Juschtschenko genauso gedient hat wie unter dem "blauen" Janukowitsch, der richtige Mann ist, der den dominierenden Einfluss seiner Oligarchenkollegen in der ukrainischen Wirtschaft eindämmen kann beziehungsweise will, darf wohl bezweifelt werden.
Das ist auch das Problem des Vitali Klitschko, der bei seinem Amtsantritt der Korruption den Kampf angesagt hat. Er hat die Kiewer Baufirmen im Nacken. Diese üben ihrerseits Einfluss auf das Rathaus aus, das sich vor dem Eurovision Village befindet. Aber von diesen politischen und ökonomischen Grabenkämpfen bekommt das feiernde Volk nichts mit.
Quelle: n-tv.de
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