Abzug aus Incirlik: Neues Kräftemessen zwischen Ankara und Berlin

  08 Juni 2017    Gelesen: 1135
Abzug aus Incirlik: Neues Kräftemessen zwischen Ankara und Berlin
Als überfällig bezeichnet die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen den Beschluss, die deutschen Soldaten aus dem türkischen Incirlik abzuziehen. Sie fordert ein neues Bundestagsmandat. Die Politologin Gülistan Gürbey sieht eine tiefe Vertrauenskrise zwischen Berlin und Ankara, während Dagdelen die deutsche Türkeipolitik für gescheitert hält.
„Dieser Abzug ist überfällig, weil die deutsche Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist“, erklärte die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen gegenüber Sputnik zum Beschluss der Bundesregierung, die deutschen Soldaten aus dem türkischen Incirlik nach Jordanien zu verlegen. „Eine Parlamentsarmee ohne parlamentarische Kontrolle wie in dem vergangenem fast einem Jahr ist völlig inakzeptabel“, betonte die Sprecherin der Linksfraktion für internationale Beziehungen.

Die den Abzug auslösenden türkischen Besuchsverbote für deutsche Parlamentarier seien inakzeptabel. Deshalb habe die Fraktion der Linkspartei gemeinsam mit den Grünen in einem Oppositionsantrag gefordert: „Abzug der Bundeswehr sofort aus Incirlik, weil die Parlamentsrechte nicht gewahrt sind!“

Die Bundestagsabgeordnete bezeichnete den Beschluss der Bundesregierung dennoch als „inakzeptabel“, weil dafür kein neues Bundestagsmandat eingeholt werden soll.

„Ich finde in Folge des Abzugs aus Incirlik muss die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag ein neues Mandat vorlegen. Ein einfacher Kabinettsbeschluss für eine Verlegung nach Jordanien verletzt meines Erachtens den Charakter der Bundeswehr als Parlamentsarmee, auch weil nunmehr auch die von der Bundesregierung selbst postulierten völkerrechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz aufgrund der völlig veränderten militärischen Situation in Syrien in Frage stehen.“

Im bisherigen Mandat sei der Einsatz der Bundeswehr ohne Einwilligung der syrischen Regierung damit begründet worden, dass Damaskus „weder willens noch in der Lage sei, gegen den Islamischen Staat vorzugehen“.

„Mittlerweile aber wird der Islamische Staat von den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten, die die Schlacht um Rakka begonnen haben, wie von der syrischen Armee, die an den Fronten in der syrischen Wüste vorrückt, massiv zurückgedrängt“, hob Dagdelen hervor.

Vertrauen zwischen Berlin und Ankara gestört

„Alles weist auf eine Vertrauenskrise im beiderseitigen Verhältnis hin.“ So schätzt die Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey von der Freien Universität (FU) Berlin die Situation ein, die zum Abzug der Bundeswehr aus dem türkischen Incirlik geführt hat. Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei sei nicht nur „sehr unterschiedlich mit Problemen behaftet“, sondern auch „vertrauensgestört“, sagte die Expertin im Gespräch mit Sputnik. Die verweigerte Besuchserlaubnis für Abgeordnete in Incirlik gehöre zu einem „Kräftemessen nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir“.

„Mittlerweile ist es nicht nur eine Frage von Staatspräsident Erdogan und der AKP-Regierung“, sagte Gürbey. „Der Streit mit Deutschland wird auch von der großen Oppositionspartei CHP getragen, die sich selbst als sozialdemokratisch sieht, die im Kern aber eine kemalistisch-nationalistische Partei ist.“ Es gebe „fast ein Konsens der wichtigsten politischen Kräfte in der Türkei“ in dieser Frage, so die Politikwissenschaftlerin.

Berlin habe sich „viel zu lange“ von Ankara hinhalten lassen, meinte die linke Bundestagsabgeordnete Dagdelen dagegen. „Ich erwarte, dass es jetzt deutlichere Zeichen an den türkischen Staatspräsidenten Erdogan geben wird, dass man seinen Weg in den islamistischen Unterdrückungsstaat nicht weiter unterstützt.“ Gleichzeitig rechnet sie mit weiteren Provokationen durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Für die linke Abgeordnete kann die Türkei „offensichtlich militärisch kein Partner mehr sein“, weshalb die Kooperation mit der Türkei innerhalb der Nato in Frage gestellt werden müsse.

Moskaus klare Reaktion als Vorbild?

Dagdelen sieht die Türkeipolitik Berlins als „vollends gescheitert“ an, „diese Politik, die immer mehr auf Unterwerfung und Zugehen, auf Zugeständnisse gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten aus war“. Sie müsse neu justiert und neben dem Dialog dabei auch „klare Kante“ gegenüber Ankara gezeigt werden. Sie verwies darauf, dass Erdogan nachgab, als zum Beispiel Moskau hart auf türkische Aktivitäten wie den Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges im syrischen Grenzgebiet im Jahr 2015 reagierte.

„Russland hat auf die Krise mit der Türkei ganz schnell mit Sanktionen reagiert“, bestätigte Politologin Gürbey. „Damit hat Russland der türkischen Regierung die Grenzen gezeigt, was wirtschaftlich verkraftbar ist. Die Konfrontation mit der russischen Seite war für die Türkei also wirtschaftlich nicht mehr verkraftbar. Deshalb hat dann auch sehr schnell ein Einlenken durch Staatspräsident Erdogan stattgefunden.“

Seitdem hätten sich die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau wieder normalisiert, aber die türkische Wirtschaft spüre die Folgen noch immer.

Für die Linkspartei-Abgeordnete Dagdelen sind in dem Zusammenhang die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei „ völlig absurd“ und deshalb zu stoppen, samt der Vorbeitrittshilfen in Höhe von 630 Millionen Euro jährlich. Sie kritisierte, dass Brüssel und Berlin sich bisher Ankara unterwerfen würden. Das geschehe, „um für deutsche Konzerne und große Unternehmen den türkischen Absatzmarkt und die Profite in der Türkei weiter aufrecht erhalten zu können, aber auch die Türkei als geopolitischen Brückenkopf im Nahen und Mittleren Osten militärisch noch im Verbund halten zu müssen.“ Das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei mit den engen wirtschaftlichen Beziehungen sei historisch gewachsen, sagte Expertin Gürbey dazu. Das habe Brüssel und Berlin bisher davon abgehalten, wirtschaftliche Sanktionen einzusetzen.

„Der EU-Türkei-Flüchtlingspakt ist bisher noch nicht gekündigt worden, obwohl es immer wieder Drohungen vor allem von der türkischen Seite gegeben hat“, stellte die FU-Wissenschaftlerin fest. „Das Abkommen ist in dieser Form im Moment nicht in Gefahr. Der Türkei geht es vor allem auch darum, von der EU durch das Abkommen finanzielle Unterstützung zu erhalten. Diese hatte Brüssel versprochen und bisher ist davon nur ein kleiner Teil in der Türkei angekommen. Einerseits profitiert die Türkei also finanziell von dem Deal, außerdem ist es für die türkische Seite auch ein Druckmittel.“

Die linke Abgeordnete Dagdelen rechnet ebenfalls nicht mit deutlichen Folgen für das Abkommen der EU mit der Türkei. Sie kritisierte aber den „Merkel-Erdogan-Pakt“ als „schäbigen Pakt auf dem Rücken von schutzsuchenden Menschen“. Er habe nichts an den Fluchtursachen geändert, sondern nur geholfen, Geflüchtete abzuwehren.

Quelle. sputniknews.com

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