Ukraine: Schwierigkeiten mit der Legitimationsgeschichte der „Revolution der Würde“

  30 November 2015    Gelesen: 655
Ukraine: Schwierigkeiten mit der Legitimationsgeschichte der „Revolution der Würde“
Die Aufklärung der Maidan-Morde kommt nicht voran.
Eine offene Wunde in der Ukraine ist die vollständige Aufklärung der Maidan-Morde und die Strafverfolgung der Täter. Die Maidan-Morde stellen mit der Verklärung der Toten unter den Demonstranten – nicht aber der Polizisten - zu den "himmlischen Hundert" die Ursprungs- und Legitimationserzählung der neuen Ukraine nach dem Sturz von Janukowitsch dar, verklärt als "Revolution der Würde" (Bildungsministerium will den Euromaidan als neuesten Nationalmythos etablieren).

Präsident Poroschenko feiert nicht nur immer wieder ausgiebig den Gedenktag und die Erinnerung, er stellt sich auch als Angehöriger der Maidan-Bewegung dar: "Ich war Teilnehmer am Maidan vom ersten Abend an bis zu den letzten Tagen." Jetzt sagte er am Samstag, am "Tag der Würde und der Freiheit", da am 21. November 2013 die Maidan-Bewegung begonnen haben soll, dass er nicht mit den Ermittlungen zu den Maidan-Schüssen zufrieden sei. Erst vor kurzem gab es deswegen einen scharfen Rüffel durch den Europarat:

Eine für letzten Freitag angekündigte Pressekonferenz mit dem Endergebnis der Ermittlungen war kurzerhand abgesagt worden. Dafür seien 5000 Zeugen befragt, 60 Terabyte an Videos durchgesehen, 600 forensische Untersuchungen sowie 500 Experimente vorgenommen worden. Einige Angehörige der Berkut-Einheiten sind festgenommen worden, Verurteilungen gab es allerdings in 26 Fällen aber nur wegen geringeren Vergehen, verdächtigt werden 270 Personen, darunter 44 ehemalige Regierungsangehörige, 125 Polizisten, 11 Richter, 9 Staatsanwälte und viele Tituschki-Organisatoren.

Serhii Horbatiuk, Chefermittler der Generalstaatsanwaltschaft, sagte in einem Interview, Janukowitsch werde verdächtigt, für die Organisation der Tötungen verantwortlich zu sein, es sei aber ungewiss, ob man Einzelne direkt für die Morde verantwortlich machen könne. Der damalige Innenminister Vitalii Zakharchenko habe mit Wissen von Janukowitsch die "Tituschkas" besorgt gegen die Maidan-Bewegung organisiert und mit Uniformen und Waffen ausgestattet. Für die tödlichen Schüsse auf Polizisten habe man keine Täter ausmachen können. Man verfolge verschiedene Spuren, so Horbatiuk, darunter Provokationen der damaligen Regierung oder einer nicht näher genannten "dritten Kraft".

Für Poroschenko steht freilich fest, was passiert es, obgleich es erhebliche Zweifel daran gibt. So sagte er am "Tag der Würde", was auf die Bedeutung der Maidan-Morde verweist: "Der Maidan hat nicht nur die Geschichte der Ukraine verändert, sondern auch die Europas und der Welt. Tausende und Millionen von Helden machten sie. In 93 Tagen stürzten die das verbrecherische Regime, das den Befehl gab, auf Menschen mit scharfer Munition zu schießen. Wir haben gezeigt, dass es eine Demokratie in diesem Land geben kann."

Die Untersuchung von über 2000 Vergehen gegen Teilnehmer der Maidan-Proteste brauche seine Zeit, versicherte er. Es seien viele Beweise zerstört worden, bevor die neue Regierung die Sicherheitsbehörden übernehmen konnte, viele Menschen hätten so ihre Spuren verwischen können. Kritik an den Behörden für die Verschleppung und mangelnde Aufklärung waren nicht zu hören, dafür wurde von ihm nur wieder die Geschichte wiederholt, für deren Richtigkeit aber eben dann noch die gerichtsfesten Beweise zu fehlen scheinen, also vor allem, ob die Morde an Demonstranten und Polizisten ausschließlich der Janukowitsch-Regierung angelastet werden kann:

Es ist bewiesen, dass Janukowitsch persönlich diese Gewalttaten angeordnet hat. Die Ausführenden waren die damaligen führenden Leiter des Innenministeriums, des SBU und des NSDC. Wir haben sie auf moralische Weise bestraft: Die Menschen haben sie verflucht und Gott hat sie von unserem Land vertrieben. Es hat keine Bedeutung, wie lange sie sich in Russland verstecken, die von ihnen begangenen Verbrechen verjähren nicht. Die Verurteilung in vorübergehender Abwesenheit wird sie treffen. Sie werden wie ihre gedungenen Mörder ins Gefängnis gesperrt werden.
Poroschenko
Am vergangenen Mittwoch wurde ein Anschlag auf Oleksandr Ruvin, den leitenden Forensiker bei der MH-17-Untersuchung und Direktor des Kyiv Scientific Research Institute of Forensic Sciences (KSRIFS) auf offener Straße in Kiew ausgeführt. Als Ruvin im Obolon-Bezirk um 9:30 Uhr aus seinem Auto ausstieg, wurde er von drei Schüssen getroffen und schwer verletzt, wenn auch nicht tödlich. Der noch unbekannte Schütze schoss aus unbekannten Gründen nicht weiter, sondern tauchte unter. Womöglich sollte der Anschlag nur eine Warnung sein.

Man wird zunächst annehmen, dass der Bombenexperte Ruvin wegen seiner Position als offizieller Vertreter in der MH-17-Untersuchung angegriffen wurde. Er hatte auf Verfälschungen russischer Experten hingewiesen, das KSRIFS hatte zu belegen versucht, dass eine russische Buk-Rakete MH17 abgeschossen hatte, während ukrainische Raketen nicht in Frage kämen.

Allerdings war Ruvin auch der Leiter einer Gruppe von Militärexperten, die die Ereignisse untersuchten, als im August 2014 mindestens 350 ukrainische Soldaten in der Schlacht um Ilowajsk umkamen, nachdem die Separatisten die ukrainischen Verbände dort eingekesselt hatten. Die Schlacht um Ilowajsk stellt eine Wende der Kämpfe dar, seitdem konnten die Separatisten ihr Gebiet sichern und ausdehnen. Um die 7000 Soldaten wollten nach Donezk durchbrechen, wurden aber von der ukrainischen Armee nicht unterstützt und gerieten in den Kessel. Tausende von Soldaten konnten unter Zurücklassung der schweren Waffen durch einen "humanitären Korridor" fliehen, wurden aber dort auch beschossen. Nach den Militärexperten war der Generalstab für das Scheitern der Offensive und den Tod der Soldaten verantwortlich. Offenbar wurde die Gruppe vom Verteidigungsministerium und dem Militär unter Druck gesetzt, es soll auch Bedrohungen gegeben haben.

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