Die Zahl der Terrorverfahren sei zuletzt so dramatisch gestiegen, dass "die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Bundesanwaltschaft erreicht sind", ließ Chefankläger Peter Frank die Justizminister wissen. "Die Bekämpfung des Terrorismus und damit die Verhinderung von Anschlägen", so Frank, "ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die meine Behörde ohne ausreichende personelle Unterstützung durch die Länder nicht mehr umfassend gewährleisten kann."
Selten zuvor hat ein Generalbundesanwalt so deutliche Worte gewählt. Tatsächlich ist die Zahl der Terrorverfahren in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen. Der Grund: Islamistische Milizen wie der "Islamische Staat" (IS) setzen konsequent auf eine Mitmachstrategie, die im Prinzip jeden Gescheiterten oder Verirrten anspricht. Religiöse Vorkenntnisse oder gar ein frommer Lebenswandel sind für Attentäter kaum erforderlich, das Reservoir für potenziellen Terrornachwuchs scheint nahezu grenzenlos zu sein.
Die Taten in Berlin und Ansbach haben gezeigt, dass eine regelrechte Fernsteuerung eines Dschihadisten bis zum Anschlag erfolgen kann. Mentoren des IS inspirieren die Freiwilligen über verschlüsselte Messenger, leiten sie an, geben Tipps und begleiten sie bis zu ihrer Bluttat. Die Zeiten, in denen nur wenige Täter Akte des Terrors verübten, wie etwa bei der RAF, seien längst vorbei, so ein erfahrener Terrorermittler.
Tausende Verfahren könnten hinzukommen
Generalbundesanwalt Frank sagte vor einiger Zeit, dass seine Behörde in diesem Jahr aller Voraussicht nach bis zu 600 Terrorverfahren einleiten werde. 2016 seien es insgesamt rund 250 gewesen, im Jahr 2013 sogar nur 68. Überwiegend handle es sich inzwischen um Fälle aus dem islamistischen Spektrum, so Frank. Auch dieser Anteil sei vor wenigen Jahren noch deutlich geringer gewesen. Hinzu kommen womöglich in den nächsten Jahren Tausende Ermittlungen gegen Männer, die als Flüchtlinge nach Deutschland eingereist sind und sich in ihren Asyl-Anhörungen selbst der Mitgliedschaft in terroristischen Gruppierungen wie etwa den Taliban bezichtigt haben.
"Die Flut der Verfahren kommt erst noch", sagte der Leiter der Abteilung Terrorismus, Bundesanwalt Thomas Beck, unlängst bei einer Tagung in Mainz. "Die Justiz muss dafür massiv aufgerüstet werden." Ansonsten drohten Terrorprozesse den Geschäftsbetrieb mancher Gerichte vollständig lahmzulegen. Bislang stockt die Justiz in Bund und Ländern ihren Personalbestand allerdings nur sehr zögerlich auf. Noch weniger tut sich im Strafvollzug, vielerorts sind Gefängnisse schon heute überbelegt.
Aber nicht nur die Strafverfolgung gerät zunehmend an ihre Grenzen, auch die Abwehr von Gefahren, als Aufgabe von Polizei und Nachrichtendiensten, hat bislang unbekannte Dimensionen angenommen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählt derzeit 10.000 Salafisten und 1600 gewaltbereite Islamisten. Täglich erhält der Inlandsgeheimdienst nach eigenen Angaben bis zu vier Hinweise auf angeblich bevorstehende Anschläge, allen muss nachgegangen werden.
Auf richtige Prioritäten hoffen
Die Polizeibehörden von Bund und Ländern wiederum kennen 690 sogenannte Gefährder, denen sie jederzeit Anschläge zutrauen. "Diese Dimensionen sind kaum noch beherrschbar", sagt ein hochrangiger Beamter aus Berlin. "Vielfach müssen wir einfach hoffen, dass wir die richtigen Prioritäten setzen."
Im Fall von Anis Amri entschied sich das Berliner Landeskriminalamt falsch. Die Staatsschützer hatten den Eindruck, dass Amri im Sommer 2016 in die Drogenszene abgeglitten war. Er konsumierte und verkaufte Kokain und schien viele Monate lang einen wenig frommen Lebenswandel zu führen. Dass er sich wenige Wochen vor dem Anschlag auf den Breitscheidplatz erneut radikalisiert hatte, unter dem Einfluss einer gezielten Aufstachelung im Chatprogramm Telegram, verpassten die Fahnder. Ein verhängnisvoller Fehler, der nach Aussagen sachkundiger Beamter womöglich aus Überlastung geschah. Nordrhein-Westfalen und Berlin sind vom Phänomen Islamismus ganz besonders stark betroffen - das Personal der Behörden ist knapp.
So braucht es zur lückenlosen Observation eines Gefährders bis zu 30 Beamte, die allerdings auch nicht mehr tun können, als hinter einem Extremisten herzulaufen und seine Kontaktpersonen zu fotografieren. Die Telefone von Gefährdern wiederum darf die Polizei in manchen Bundesländern, etwa in Nordrhein-Westfalen und Berlin, nicht abhören - und verschlüsselte Kommunikation kann sie kaum knacken. Dem Rechtsstaat ist mancherorts wenig recht, wenn es um den Schutz seiner Bürger geht.
Allerdings hat sich nach dem Anschlag Amris der Umgang mit den Gefährdern geändert, die keine Deutschen sind. Während im Falle des Tunesiers Amri die nordrhein-westfälischen Behörden sich dagegen entschieden hatten, ihn auf der Grundlage des Paragrafen 58a Aufenthaltsgesetz abzuschieben, haben Bremen und Niedersachsen diese rechtliche Möglichkeit nun wiederholt genutzt. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidungen der Innenministerien inzwischen bestätigt.
Die Terrorgefahr in Deutschland bleibt trotzdem - wie es im Behördenjargon heißt - "abstrakt hoch". Daran dürfte sich wenig ändern. Unisono sagen alle hochrangigen Vertreter deutscher Sicherheitsbehörden, es sei keine Frage, ob ein weiterer Anschlag geschehe. Die Frage sei nur, wann er geschehe.
Quelle : spiegel.de
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