Demographischer Wandel: Europa verliert im wissensintensiven Sektor
Ausgelöst durch Urbanisierung und Deregulierung haben die USA und Europa seit den 1980ern einen wahren Profit-Boom erlebt. Wissensintensive Industrien wie die Pharma-, Medien-, Finanz- oder IT-Branche, sind besonders profitabel. Die Hälfte der weltweit wertvollsten Marken stammt heute aus diesen Sektoren, hat eine Studie des McKinsey Global Institute ergeben. Und es werden immer mehr. Die neuen Wettbewerber aus den Emerging Markets, einst "Werkbank des Westens", dringen nun ebenfalls aggressiv in diese profitablen Sektoren ein.
Die OECD geht davon aus, dass der globale Arbeitsmarkt für Akademiker auch im Jahr 2020 noch nicht gesättigt sein wird. Noch im Jahr 2000 stellten die USA und China jeweils 17 Prozent der Hochschulabsolventen in den OECD- und G-20-Staaten. 2020 sollen bereits 20 Prozent der Chinesen über einen Hochschulabschluss verfügen. Dann werden 40 Prozent aller Jung-Absolventen aus China und Indien stammen. Haben heute zwei Drittel aller multinationalen Konzerne ihren Stammsitz im alten Markt, werden 2025 mehr als drei Viertel aus den Emerging Markets stammen, so die Studie von McKinsey.
Die USA und Europa fallen hingegen zurück. Die Akademisierungsraten von 60% bzw. 40%, die die USA und die EU als Gegenmaßnahme anstreben, sind längst noch nicht erreicht. Deutschland liegt mit einer Quote von 33,1% besonders weit zurück. Im Durchschnitt investieren die OECD-Mitgliedsländer 13,2% ihrer öffentlichen Gesamtausgaben in Bildung. Deutschland steht mit knapp unter 10% auf dem drittletzten Platz. Hinzu kommt, dass die Humanressourcen in Europa, speziell in Deutschland, als Folge des demographischen Wandels insgesamt kleiner werden und den Milliarden immer besser ausgebildeter junger Menschen in Asien kaum noch Paroli bieten können.
Spardiktat: Europa verpasst den Start in der digitalen Ökonomie
In den USA konnten Gründer wie Steve Jobs, Larry Page oder Mark Zuckerberg Unternehmen aufbauen, die die Old Economy gehörig unter Druck setzen. Innovative digitale Ökosysteme entstehen nicht kontinuierlich in etablierten wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Organisationen wie in der "Alten Ökonomie", sondern außerhalb eingetretener Pfade. Startups wie Apple, Google und Facebook konnten sich nur mit Venture Capital in Milliarden Höhe zu ihrer Größe aufschwingen, da die meisten solcher Versuche scheitern.
Ähnliches gilt für die dritte IT-Revolution. Diese beginnt nach der Digitalisierung und Vernetzung jetzt - das ist die Überzeugung von Managementvordenker Michael Porter. Intelligente Waren werden kontinuierlich mit dem Betrieb des Herstellers sowie mit anderen Produkten und Dienstleistungen online verbunden sein – sowie mit Menschen und intelligenten Maschinen. Die so entstehende Informationslawine wird eine neue, digitale Wissensökonomie begründen. Assets wie Algorithmen, Software und Big Data werden die Profitabilität des Produktionsfaktors Wissen auf eine neue Stufe stellen.
In der Industrie 4.0 möchte Deutschland sogar Vorreiter werden. Das ergibt Sinn in einem Land mit traditionellen Stärken im Maschinenbau und in der Elektrotechnik. Hierzu hat Deutschland einen High-Tech Gründerfonds gemeinsam mit der KfW und der Deutschen Post sowie mit privatwirtschaftlichen Akteuren wie Daimler, SAP, Bosch, Metro und Tengelmann aufgelegt. Dieser Fonds ist aktuell mit rund 300 Millionen Euro ausgestattet. Zappalott!
Alleine der Visionär Bill Maris spielt bei Google Ventures mit einem gigantischen Fondsvermögen von insgesamt 1,5 Milliarden US-Dollar. 2013 übernahm der Technologiekonzern das Robotik-Unternehmen Boston Dynamics. Dieses ist weltweit Vorreiter für selbstlernende, humanoide Laufroboter. 2014 hat Google den Prototyp eines Autos für autonomes Fahren vorgestellt. An der Zukunftslogistik zu Luft tüftelt der Konzern im Geheimlabor "Google X". Hierzu übernahm Google 2014 für geschätzte 60 Millionen US-Dollar den Drohnenhersteller Titan Aerospace.
In Europa bestimmen hingegen Sparmentalität und die Orientierung der Aktionäre an kurzfristigen Profiten statt an langfristigen Investitionen das Handeln. Das Wettrennen mobiler Bezahl-Systeme hat die Telekom beispielsweise aufgegeben: Nachdem Hunderte von Millionen Euro in die Entwicklung eines eigenen Systems geflossen waren, hat Telekom-Chef Höttges 2014 die Investitionsmittel für diesen Bereich gekürzt. So gehen Wettrennen technologischer Systeme für Europa verloren.
Chancen in der sozialen Ökonomie
Europäische Frauen bekommen im Durchschnitt nur noch 1,6 Kinder. Das ist die niedrigste Fertilisationsrate weltweit. Die geburtenschwachen Jahrgänge werden noch weniger Neugeborene pro Jahr als die Vorgeneration haben. Die durchschnittliche Lebenserwartung und der Anteil älterer Menschen nimmt zu, der der jüngeren Menschen ab. Diese Entwicklung wirft Probleme für die sozialen Sicherungssysteme in Europa auf, die darauf bauen, dass eine ausreichende Zahl von Erwerbstätigen nicht erwerbstätige Menschen versorgen.
Die Nationen der Welt wandeln sich von Sozialstaaten hin zu Präventionsstaaten, Sozialstaaten sind schlicht nicht mehr finanzierbar, ist Evgeny Morozov, Internetforscher an der Harvard University, überzeugt. Vielmehr breite sich der "Solutionismus" aus. Apps würden etwa dafür sorgen, dass Menschen gar nicht erst krank oder ausgeraubt werden. Jeder werde zu 99% für sein Leben selbst verantwortlich sein. Eine neue soziale Ökonomie wird entstehen, die für Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Renten sorgt.
Vorreiter auf diesem Gebiet sind Länder im Mittleren Osten. Hier herrscht die Moral der Islamic economy, in der Ausbeutung und Geldgier verpönt sind. Risiko und Venture Capital sind Teil der Moral dieser Wirtschaft. In Saudi Arabien, Jordanien und Ägypten hat sich eine junge, dynamische Startup-Szene entwickelt. Dabei stehen Profit-Sharing und Social Ventures zur Verminderung der Unterschiede zwischen arm und reich, zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit sowie zur Erhöhung von Gesundheit und Bildung der Bevölkerung im Fokus. Banken sind als Teil einer größeren islamischen Organisation, die der Allgemeinheit dient, und für eine solche soziale Ökonomie bestens gewappnet.
Muslimische Einwanderer als Innovatoren in der sozialen Ökonomie
An den Grenzposten der EU gibt es jährlich 140 Millionen Grenzüberschreitungen von Einwanderern aus Nicht-EU-Staaten. Die meisten von ihnen kommen aus der Türkei, dem Mittleren Osten und Nordafrika. Auch der größte Teil der aktuellen Asylbewerber stammt aus diesen Regionen. Die Geburtenraten in diesen Ländern gelten weltweit als die höchsten. Armut, fehlende Arbeitsplätze und Kriege treiben viele Menschen aus diesen Gebieten nach Europa. Bis 2050, so wird geschätzt, werden 10% der Einwohner in Europa Muslime sein.
Im Durchschnitt hatten unter den Asylsuchenden des vergangenen Jahres in Deutschland nur 15 Prozent eine Hochschule besucht. Das Potential dieser Menschen ist dennoch nicht zu unterschätzen: Auch wenn sie aktuell schlecht ausgebildet sind, sind ihre Begabungen genauso verteilt wie in gut ausgebildeten Populationen. Dieses Potential gilt es zu entwickeln, um den Gründergeist der Einwanderer für die digitale Ökonomie nutzen zu können.
Schon heute sind unter den jungen Gründern Europas überproportional viele Einwanderer aus Drittstaaten. Ihr Mut zum unternehmerischen Risiko verdanken sie ihren Traditionen. Muslime können in ihren Heimatländern in Notsituationen kaum auf staatliche Unterstützung bauen. Sie sind es gewohnt, sich auf soziale Netzwerke zu verlassen. Diese Absicherung lässt sie in der Wirtschaft größere Risiken eingehen als staatlich abgesicherte Populationen.
Social Ventures brauchen besonders lange, bis sie große Nutzerzahlen und Profit erwirtschaften. Sie sind nichts für Investoren aus dem "alten" Europa, die sich eher auf kurzfristige Profite statt auf langfristige Investitionen fokussieren. Allerdings können Muslime mit ihrer Risikobereitschaft, ihrer Langfristorientierung und ihrem Sinn für das Gemeinwohl als Gründer von Social Ventures innovative Impulse für die zukünftige Versorgung der europäischen Bevölkerung mit sozialen Leistungen liefern.
Was jetzt passieren muss: Akademisierungsrate erhöhen
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher mahnt: "Seit 1999 hat Deutschland einen Investitionsrückstand von rund einer Billion Euro aufgebaut und dadurch erhebliche Wachstumschancen verpasst." Fratzscher sieht, wie viele andere Wissenschaftler und Ökonomen, die Flüchtlingskrise als "Weckruf" für Deutschland. Sie stoße die richtigen Reformen an. Sorgen, die Versorgung und Integration in den Arbeitsmarkt der Hilfesuchenden werde zu teuer, seien unbegründet. Ein Flüchtling erwirtschafte spätestens nach sieben Jahren mehr, als er den Staat koste.
Modellberechnungen der UN zeigen, dass die demografische Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung durch Zuwanderung nicht verhindert werden kann. Aber die Einwanderer stellen eine zusätzliche Ressource für die Wissensökonomie dar. Will Europa in diesem profitablen Sektor nicht zurückfallen, muss die Akademisierungsrate der Einwanderer, aber auch der europäischen Bevölkerung insgesamt deutlich höher werden, als die angepeilten 40%. Insbesondere junge Menschen aus bildungsfernen Milieus, die an Hochschulen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert sind, und junge Frauen in MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) müssen gefördert werden, um bei einer schrumpfenden Bevölkerung nicht einen großen Teil des intellektuellen Potentials ungenutzt zu lassen.
In der digitalen Ökonomie behaupten sich besonders begabte Menschen. In den USA haben die meisten Tech-Gründer Hochschulen wie die Stanford- oder Harvard-University besucht. In Kontinentaleuropa gibt es solche Einrichtungen kaum. Eliteuniversitäten und eine Hochbegabtenförderung sind dazu geeignet, die Möglichkeiten der intellektuellen Elite in Europa zu erschließen. Besonders hochbegabte Einwanderer und Menschen aus bildungsfernen Milieus sind systematisch zu identifizieren und zu fördern: In einer schrumpfenden Bevölkerung gilt es, jeden einzelnen potentiellen Tech-Gründer zu befähigen, zwar nicht so sehr Arbeitsplätze, aber hohe Gewinne zu schaffen, die in einer Profit-Sharing-Ökonomie zu sozialverträglichen Renten beitragen können.
In das Internet der Dinge und Social Ventures investieren
In Deutschland wurden 2013 gerade einmal 500 Millionen Euro, das sind 0,02 Prozent des BIP, als Risikokapital angelegt. Der Anteil in den USA war mit 0,17 Prozent des BIP und umgerechnet 21 Milliarden Euro neun Mal so hoch. Dabei liegt die Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen laut einer Studie der Deutschen Bank und des Bundesverbands der Deutschen Industrie im Durchschnitt bei 29%. Im Jahr 1997 waren es noch 6%. Die Zinsen betragen aktuell nahe Null. Kaum waren die Bedingungen in Europa günstiger, in unternehmerische Chancen zu investieren. Diese sind aktuell das Internet der Dinge und die soziale Ökonomie.
Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung und Vernetzung für Unternehmen mit sich gebracht haben – durch e-commerce, Werbung in den sozialen Medien oder bargeldloses Bezahlen - haben die US-Amerikaner bereits realisiert. Nun werden Dinge intelligent. Smarte Laufschuhe, die Joggern per Vibration den Weg weisen, selbstfahrende Autos und autonome Pizza-Liefer-Drohnen sind "das nächste große Ding". Algorithmen, Software und Big Data versprechen maximalen Profit beim Verkauf der Informationsflut an Konsumwarenhersteller und Medienunternehmen, die von Werbeeinnahmen leben.
Die Soziale Ökonomie bietet im Anbetracht des demographischen Wandels eine Lösung für die nachhaltige Versorgung der Gesellschaft mit sozialen Leistungen an. Vorbilder sind das ägyptische Online-Bildungsportal Nafham, das auch Menschen aus dem Arbeiter-Milieu erreicht, oder die Online-Personalberatung Auticon, die Autisten als IT-Berater vermittelt. Islamic banking und profit-sharing können dazu beitragen, dass sich in Europa eine Wirtschaft mit Renten entwickelt, die die aktuelle Ungleichverteilung reduziert.
Die "alte Wirtschaft" und die öffentliche Hand können gemeinsam den Investitionsrückstand in Europa aufholen. Es gilt, Wachstumschancen zu nutzen und eine tragfähige Sozialversorgung der Bevölkerung zu entwickeln. Hierfür muss deutlich mehr als bisher in die Akademisierung sowie in unternehmensinterne Innovationen und Startups investiert werden. Sonst verliert Europa endgültig den Anschluss an die globale Wissensökonomie.
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