Bei den Nachbarstaaten im Baltikum, in der Ukraine und in Polen sorgten die Pläne, Tausende Soldaten samt großkalibrigem Militärmaterial an die europäische Ostgrenze zu verlegen, bereits im Vorfeld für erhebliche Besorgnis. Weißrussland gilt als Russlands engster militärischer Verbündeter. Das Land grenzt im Norden ans Baltikum, im Westen an Polen und im Süden an die Ukraine.
Diese Länder fürchten, dass Russland unter dem Deckmantel des Manövers dauerhaft Soldaten an den Grenzen stationieren könnte. Westliche Beobachter gehen zudem davon aus, dass das Manöver in Wahrheit sehr viel umfangreicher ausfällt als offiziell angegeben. Innerhalb der Nato gelten die von Russland angekündigten Teilnehmerzahlen als unglaubwürdig.
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen rechnet eigenen Angaben zufolge mit bis zu 100.000 Soldaten. Sie sprach von einer "Machtdemonstration" Moskaus. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit geht auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg von einem wesentlich größeren Ausmaß des Manövers aus. Denn abseits der Kernübung laufen bereits viele weitere Übungen ab, die mutmaßlich am Ende in das große "Sapad"-Szenario münden: Erwartet wurden unter anderem Übungen der Nordflotte, in der Schwarzmeerregion und im ganzen Militärbezirk West, der an das Baltikum grenzt.
Dazu kommt: Westliche Militärbeobachter sind bei dem russischen Manöver zunächst nicht eingeladen: Dies wäre laut dem "Wiener Dokument" - einer Vereinbarung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) - erst ab einer Übung von 13.000 Soldaten vorgeschrieben - eine Zahl, die Russland in den offiziellen Angaben auffallend knapp unterschreitet.
Die USA forderten Russland vor diesem Hintergrund auf, den Medien größeren Zugang zu gewähren. "Jeder wäre entspannt, wenn die Russische Föderation die Medien zu allem, was sie tut, einladen würde", sagte ein Sprecher des US-Militärs.
Kritiker befürchten zudem, dass Moskau das Manöver als Deckmantel nutzt, um die Machtbalance in der Region dauerhaft zu verändern. Ein Teil der Soldaten könnte nach der Übung in Weißrussland stationiert bleiben, heißt es. "Wir sind besorgt", sagte etwa Litauens Außenminister Linas Linkevicius. Im Gegensatz zu "Sapad 2013" bringt Russland diesmal auch eigene Truppen nach Weißrussland. "Wir fürchten, dass dort die russische Militärpräsenz dauerhaft sein wird." Das Verteidigungsministerium in Minsk betonte vor diesem Hintergrund ausdrücklich, dass das Manöver keine Bedrohung für Europa darstelle. Russland wies Kritik an dem Manöver ebenfalls zurück und betonte, die Übung habe "rein defensiven Charakter".
Düstere Planspiele
Das Szenario der Übung zeichnet dagegen ein ganz anderes Bild: In der fiktiven Lagedarstellung, die "Sapad 2017" Beobachtern zufolge zugrunde liegen dürfte, kommt die Bedrohung ganz klar aus dem Westen. Für das anstehende Großmanöver hätten die Planer im russischen Generalstab ein erschreckend düsteres Bild von der geopolitischen Gesamtlage entworfen, heißt es aus Kreisen westlicher Militärexperten.
Am Anfang dürfte demnach der Kampf gegen "Aufständische" an Russlands Westflanke stehen, am Ende der totale Atomkrieg gegen die Nato. Zwar ähnelt das Szenario von "Sapad 2017" damit dem der Vorgängerübung von vor vier Jahren, doch die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen haben sich seither drastisch verschlechtert. Ein Jahr nach dem letzten Manöver eroberte Russland die ukrainische Halbinsel Krim - auch mit Hilfe der damals neu einstudierten Taktiken.
Vor allem die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen fürchten, wieder unter die Einflusssphäre Moskaus zu geraten. Die ehemaligen Sowjetrepubliken gehören seit 2004 der Nato und der EU an.
Entsprechend aufmerksam beobachten Russlands Nachbarn die neue Übung, die zudem wenige Monate vor der russischen Präsidentenwahl stattfindet. "Sapad 2017" könnte Moskaus größtes Militärmanöver seit dem Kalten Krieg werden, heißt es. Schon die Vorbereitungen machten US-Militärs auffallend nervös.
Erinnerungen an die Krim-Krise
"Als Russland die Krim eroberte, geschah dies vor dem Hintergrund eines Manövers. Auch der Einmarsch in Georgien war ein Manöver", warnte zuletzt etwa der Kommandeur der US-Truppen in Europa, Ben Hodges. Den offiziellen Verlautbarungen zum Umfang der Übung schenkt der US-General keinen Glauben. Russland verstoße regelmäßig gegen Abmachungen, sagte er. Die USA würden daher vorsichtshalber drei Verbände Luftlandetruppen mit bis zu 600 Soldaten für die Dauer von "Sapad" in den drei Staaten des Baltikums stationieren, kündigte der General an. Es gehe darum, in höchster Alarmbereitschaft zu sein.
Der russische Nato-Botschafter Alexander Gruschko warf der westlichen Allianz dagegen vor, die September-Übungen zu dämonisieren. Für Russland sei das Herbstmanöver zum Abschluss der Ausbildung der Truppen über die Sommermonate Routine, heißt es aus Moskau. Jedes Jahr ist ein anderer Militärbezirk des Riesenreichs an der Reihe, dieses Jahr eben wieder der Westen, auf russisch "Sapad".
"Snap"-Manöver an der Westgrenze
Der Aufwand des Manövers ist in jedem Fall enorm: Neben Heer, Luftwaffe und Marine werden wohl auch die Geheimdienste, Truppen des Innenministeriums zur Aufstandsbekämpfung und zivile Stellen zum Einsatz kommen. Geprobt werden dürfte, so vermuten es Militärexperten, unter anderem die strategische Verlegung von Truppen mit Flugzeugen und per Bahn in den Westen. Auch Alarmierungsübungen, für die Russland in der Vergangenheit auf einen Schlag über 80.000 Soldaten mobilisierte, dürften wohl wieder auf dem Programm stehen.
Die Nato hat diese "snap exercises", die auch den Auftakt zur Annexion der Krim bildeten, angesichts der verschlechterten Sicherheitslage immer wieder als gefährlich kritisiert. Zudem dürften wie bereits 2013 erneut Bewegungen mit taktischen Atomwaffenträgern zu beobachten sein. Nach russischer Militärdoktrin sind solche Einheiten als eine Art "letzte Aufforderung zum Dialog" vorgesehen, falls dadurch ein Atomkrieg mit strategischen Nuklearwaffen verhindert werden kann.
Symbolische Nato-Präsenz im Baltikum
Vor allem die drei Balten-Staaten beobachten "Sapad 2017" mit wachsender Unruhe: Mit ihren teils starken russischen Minderheiten gilt deren Territorium als schwer zu verteidigende Achillesferse der Nato. Nach der Annexion der Krim stationierte die Militärallianz erstmals westliche Kampftruppen dort, jeweils ein Nato-Bataillon mit rund 1000 Soldaten soll Russland nun von einem Angriff auf Litauen, Lettland und Estland abschrecken. Auch Soldaten aus Deutschland sind am Schutz der Bündnispartner beteiligt.
Die Kampfverbände dienen vor allem als deutlich sichtbares Warnsignal, dass die Nato mit ihrer Führungsmacht USA eine Attacke auf baltisches Gebiet nicht hinnehmen würde. Militärisch dagegen könnten die Bataillone im Ernstfall einen Angriff wohl nicht lange aufhalten: Auf russischer Seite stehen ihnen im Militärbezirk West Schätzungen zufolge drei Armeen mit rund 100.000 Soldaten gegenüber.
Schwachstelle: Suwalki-Lücke
Dazu kommt, dass Russland mit der zwischen Litauen und Polen eingekeilten Enklave Kaliningrad über einen Vorposten mitten im Nato-Gebiet verfügt. Seit Jahren bereits rüstet die Regierung in Moskau das Territorium an der Ostsee zur Festung auf: Für Aufsehen sorgte vor allem die Verlegung von Iskander-Raketen dorthin, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Doch auch die Marine wird im Zuge der Streitkräfte-Modernisierung massiv gestärkt.
Kaliningrad ist Heimathafen russischer Korvetten, die mit Kaliber-Marschflugkörpern ausgerüstet sind. Das sind selbstständig fliegende Lenkwaffen mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern, die nukleare Gefechtsköpfe tragen und fast ganz Europa erreichen können. Zuletzt verschoss Russland solche Marschflugkörper vom Kaspischen Meer aus auf Ziele in Syrien.
Bundeswehr-Soldaten in der Nähe
Anders als 2013 werden westliche Truppen beim diesjährigen "Sapad"-Manöver durch die Stationierung im Baltikum sehr nah dabei sein. Die Bundeswehr, die das Nato-Bataillon in Litauen führt, hat dabei ungewollt einen Platz in der ersten Reihe: 420 deutsche Soldaten sind aktuell in Rukla im Einsatz. Von dem Örtchen aus sind es je nach Himmelsrichtung etwa 150 Kilometer zur Grenze Weißrusslands, Kaliningrads oder bis zur sogenannten Suwalki-Lücke an der Grenze nach Polen.
Der rund 100 Kilometer lange Streifen zwischen Polen und Litauen ist so etwas wie das "Fulda Gap" des alten Kalten Krieges. Damals rechneten die Militärplaner der Nato in ihren Krisenszenarien hier mit einem Angriff der Roten Armee. Die Suwalki-Lücke im Nordosten Polens dagegen ist ein nur rund 65 Kilometer schmaler Landkorridor, der das Baltikum mit den übrigen Gebieten der Nato verbindet, zugleich aber das unter Moskaus Einfluss stehende Weißrussland von Kaliningrad trennt.
Strategisch wichtiger Brennpunkt
Militärexperten halten es für schwer vorstellbar, dass Russland die strategisch wichtige Suwalki-Lücke im Falle einer ernsten Krise nicht sofort sichern würde. Zugleich würde die Regierung in Moskau damit aber das Baltikum vom Rest der Nato abschneiden. Im Juni übten US-amerikanische und britische Soldaten daher erstmals mit einem größeren Manöver die Verteidigung der Suwalki-Lücke gegen einen möglichen Angriff aus dem Osten.
"Der Landstreifen ist durch seine geografische Lage sehr verwundbar. Es muss dort natürlich nicht zum Angriff kommen. Aber wenn der Korridor geschlossen würde, wären drei Verbündete im Norden möglicherweise vom Rest der Allianz isoliert", erklärte US-General Hodges die Lage.
Ist das russische Manöver eine echte Drohgebärde oder nur ein militärisches Muskelspiel? Westliche Beobachter deuten "Sapad" bislang vor allem als Botschaft der Abschreckung, mit der Moskau etwaigen Feinden klarmachen will, dass die russischen Streitkräfte in der Lage wären, das eigene Territorium zu verteidigen. Die Tatsache, dass es - außer Russland - in der Region faktisch keine Kräfte gibt, die völkerrechtlich geschützte Grenzen infrage stellen, spielt für Moskau dabei offenbar keine Rolle.
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