Als Maßnahme gegen Korruption stellt die saudische Führung die Verhaftungen dar. Als versuchte Machtkonsolidierung betrachten viele Beobachter die riskante Aktion, die sich noch als Boomerang für MbS erweisen könne. Der Kronprinz gehe eine Wette ein, schreibt David Ignatius in der "Washington Post", eine Wette darauf, dass die zahlenmäßig weit überlegene junge Generation in Saudi-Arabien den möglichen Konflikt mit der alten Garde für sich entscheiden wird. Er geht dabei ein hohes Risiko ein. Seine rücksichtslosen und eindeutigen Schritte hin zu mehr Macht bringen ein über Jahrzehnte gepflegtes System im Land ins Wanken. Es war träge, doch es stellte die Mitglieder der weitverzweigten Herrscherfamilie ruhig und einigermaßen zufrieden. Nun müssen die bislang alimentierten Prinzen und Würdenträger um ihre Pfründe fürchten.
Das Thema Korruption trifft – unabhängig davon, ob die Aktion vom Wochenende diese tatsächlich eindämmt – auf der anderen Seite einen Nerv im Königreich, in dem seit langem klar ist, dass die Zeiten des Überflusses irgendwann einmal zuende gehen werden. Der Vorsitzende der in Washington ansässigen "Arabia Foundation", Ali Schihabi, argumentierte, es gehe MbS eindeutig um Korruptionsbekämpfung, denn die festgesetzten Prinzen und Minister hätten "bis auf einen" nur wenig Macht innegehabt. Dieser eine hatte dafür eine sehr bedeutende Position: Muteib bin Abdullah war der Minister für die Nationalgarde, eine Elitetruppe. Fakt ist: Die korrupten Eliten des streng islamischen Königreichs bieten seit Jahrzehnten eine Angriffsfläche. Die Jugend wünscht sich mehr Freiheit und fühlt sich durch die strengen islamischen Vorschriften eingeengt. Und das, während die reichen Prinzen ein Leben in Saus und Braus leben – reiche Saudis sind die besten Kunden in Etablissements aller Art in der arabischen Welt – und die Religionspolizei bis vor einigen Monaten auch kleine Verstöße gegen die Sitten auf der Straße ahndete.
Von religiöser Seite war der Selbstbedienungsladen Königshaus ebenfalls ein Angriffspunkt. Immer wieder gab es Konflikte mit dem Klerus, der allerdings in Saudi-Arabien durch die Staatsdoktrin des Wahhabismus, der saudischen super-konservativen Islam-Auslegung, weitgehend gedeckelt war. Diese geht zurück auf den Pakt zwischen dem Staatsgründer Muhammad bin Abd al-Aziz Al-Saud und Muhammad ibn Abd al-Wahhab. Seine Nachfahren bekleiden noch heute bedeutende religiöse Ämter in Saudi-Arabien. Die saudische Doppelmoral ist zugleich Nährboden für Extremisten, die das trotz allem sehr strenge Saudi-Arabien als Sündenpfuhl betrachten. Der Gründer von Al-Kaida, Osama bin Laden, war Saudi, tausende Söldner des Islamischen Staats ebenso. Doch Mohammed bin Salman hat bereits eine Abkehr von dieser fast 300 Jahre währenden Allianz eingeleitet. Auch deshalb muss er in die Offensive gehen.
In vier Schritten zur Macht
Die Strategie von MbS kristallisiert sich folgendermaßen heraus:
1. Er räumt Konkurrenten und potentiell gefährliche Würdenträger in der eigenen Familie und im Staatsapparat beiseite. Dabei geht es um tatsächliche Macht und um symbolische Machtdemonstration. Wichtigster Schritt dabei war, überhaupt Kronprinz zu werden, was ihm im Juni nach erfolgreicher Intrige gegen den bis dahin benannten Thronfolger gelungen war. Nun setzte er den Chef der Nationalgarde ab, besagten Muteib bin Abdullah, einen Sohn des 2015 verstorbenen Königs Abdullah. Damit wollte MbS offenbar die Möglichkeit eines Coups gegen sich minimieren.
2. Er macht Zugeständnisse an die zumeist jugendliche Bevölkerung und die Frauen. Es begann mit der Absetzung der Religionspolizei im April. Im September folgte die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen (es gilt ab dem nächsten Jahr nicht mehr), gefolgt von der Stadionerlaubnis. Die Schritte mögen symbolisch sein und nicht zwingend aus tiefer innerer Überzeugung – oder gar demokratischem Bewusstsein – heraus geschehen sein. Sie erfüllten aber den politischen Zweck. In einem Land mit rund 60 Prozent Menschen unter 30 Jahren könnte das Aufbrechen der bisherigen Herrschaft von Greisen durchaus Unterstützung finden.
3. Der junge Kronprinz versucht sich gegen die Reaktion einflussreicher Geistlicher gegen diese Öffnung abzusichern. Im September ließ er eine Reihe hochrangiger Prediger festsetzen. Ende Oktober sagte MbS, er wolle einen moderaten Islam fördern.
4. Mohammed bin Salman präsentiert sich als Macher. Er formulierte die Vision 2030, einen ehrgeizigen Entwicklungsplan mit dem Ziel, Saudi-Arabiens Wirtschaft unabhängiger vom Erdöl zu machen und neue Wirtschaftszweige zu erschließen. Dazu gehört ein Tourismusprojekt am Roten Meer und die vor wenigen Tagen vorgestellte Zukunftsstadt "Neom", die 500 Milliarden Dollar kosten soll.
Mohammed bin Salman nutzt also ein populäres Thema, Korruption, um sich einiger Menschen zu entledigen, die seinem Aufstieg im Wege stehen oder in Zukunft im Wege stehen könnten. Er will auch ein Exempel statuieren: Wer seinen Weg nicht mitgeht, seine Pläne nicht unterstützt und seine Projekte nicht fördert, der wird abgesägt. So wird hinter der Festsetzung des reichsten Mannes der arabischen Welt, Al-Walid bin Talal, auch Rache vermutet dafür, dass dieser nicht bereit war, in Neom zu investieren. Talal besitzt unter anderem Anteile an Disney, Twitter und diversen internationalen Luxushotels. Salman hat gleichzeitig erkannt, dass die Korruption seinen Plänen tatsächlich im Wege steht. In einem Interview mit Bloomberg beklagte der Kronprinz, jedes Jahr gingen in seinem Land 80 bis 100 Milliarden Dollar verloren durch "ineffiziente Ausgaben" - also Schmiergelder aller Art.
Die Frage bleibt, ob MbS das aktionistische Trommelfeuer auf so vielen Ebenen dahin bringt, wohin er möchte. Und ob dies dann nicht nur ihm nützt, sondern auch, wie er vorgibt zu wollen, seinem Land. Der Bundesnachrichtendienst kam vor knapp zwei Jahren zu der Einschätzung, Mohammed bin Salman sei eine Gefahr für die Stabilität der arabischen Welt. Damals war MbS nur Verteidigungsminister.
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