Brüssels „Nuklearoption“ zeigt die Ohnmacht der EU

  20 Dezember 2017    Gelesen: 540
Brüssels „Nuklearoption“ zeigt die Ohnmacht der EU
Nach Polens hoch umstrittener Justiz-Reform entscheidet die EU-Kommission über einen Entzug der Stimmrechte. Es käme einem Teilrauswurf gleich. Doch greift Brüssel zu diesem Mittel, zeigt sich auch eine traurige Wahrheit.
Nuklearoption: Das klingt nach Atomschlag und Vernichtung, nach der Drohung, einen Feind auszulöschen, wenn er nicht klein beigibt. Erstmals überhaupt in der Geschichte der EU könnte die EU-Kommission diese sogenannte nukleare Option nach Artikel 7 der Europäischen Verträge gegen einen Mitgliedstaat wählen, wenn die Kommissarenrunde am Mittwoch letztmalig vor Weihnachten berät. Und doch ist die „juristische Atombombe“ kein brutaler Angriff, sondern eine Verteidigungsmaßnahme für den Werte-Nukleus der EU.

Im Visier steht Polen mit seiner hoch umstrittenen Justiz-Reform, der das Warschauer Parlament vor knapp zwei Wochen grünes Licht gegeben hat. Brüssel fürchtet, dass Polens Verfassungsgericht ebenso wie seine Richter und Staatsanwaltschaften entmachtet und zu Erfüllungsgehilfen der Regierungspartei PiS degradiert werden könnten. Gerade hat auch die Venedig-Kommission, die die Staaten des Europarates verfassungsrechtlich berät, die Sorge bekräftigt. Demnach verletzen die Reformen von Warschau demokratische Grundprinzipien, zu denen sich alle EU-Mitglieder verpflichtet haben.

Die höchste Eskalationsstufe
So ernst der Tatbestand, so beschränkt aber sind die Sanktionsmöglichkeiten. Was da auf Vorschlag von Brüssel womöglich gezündet wird, klingt sehr viel bedrohlicher, als es in der Realität je sein kann. Zwar steht am Ende eines Artikel-7-Verfahrens rein theoretisch ein schwerer Schaden, nämlich der vorübergehende Entzug der Stimmrechte bei Entscheidungen der EU. Das käme fast einem befristeten Teilrauswurf aus der EU gleich. Doch beim Nuklearvorschlag der Kommission, so er denn überhaupt kommt, ist es wie bei richtigen Atombomben: Man betont gern, diese Waffe im Bunker zu haben.

Doch die Zündung ist aus einer ganzen Reihe von Gründen höchst unwahrscheinlich. Ihr Wert liegt vor allem in der Abschreckung, der politischen Symbolik. Im Falle der EU heißt das: Wenn Brüssel für die Nuklearoption votiert, dann will die Kommission vor allem demonstrieren, dass die Lage wirklich ernst ist. Doch danach gibt es keine weitere Eskalationsstufe mehr. Und das ist das große Problem.

Noch nie ist die schärfste Waffe, die der EU-Vertrag bereithält, aktiviert worden. Wenn das nun geschieht, wird sich bei Tageslicht schmerzlich klar zeigen, dass die EU im Grunde fast schutzlos dasteht, wenn sich ein Mitgliedstaat nur hartnäckig genug verweigert. Zwar kann eine Vier-Fünftel-Mehrheit der EU-Staaten feststellen, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gegeben ist.

Doch die harschen Sanktionen müssen – ohne das Votum des betroffenen Landes natürlich – einstimmig beschlossen werden. Und Ungarn hat im Falle von Polen bereits angekündigt, mit Nein zu stimmen. Eine Aussetzung von Stimmrechten für Polen auf EU-Ebene ist also so gut wie ausgeschlossen. Die Atombombe ist also wenig mehr als eine Drohung.

„Die Zwangsmittel der EU sind endlich“, sagte der renommierte Europarechtler Thomas Giegerich, Professor in Saarbrücken, der WELT. „Wenn sich ein Staat nicht mehr an die Spielregeln halten will, kann ihn die Union ja nicht mit Militärmacht dazu zwingen.“ Auch die Sanktionsmöglichkeiten seien begrenzt. „Die Union beruht im Kern darauf, dass alle Mitgliedstaaten rechtliche Vorgaben respektieren.“ Das Problem ist, dass das immer mehr Mitgliedstaaten einfach hartnäckig verweigern.

Der Sanktionsartikel wurde in den 2007 beschlossenen EU-Vertrag von Lissabon aufgenommen, um die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ europäischer Grundwerte durch ein Mitgliedsland ahnden zu können. Eine solche Verletzung sehen viele in Polen, aber eben nicht nur dort.

welt.de

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