Astghik Tarloyan unterrichtet Deutsch an der staatlichen W. Brjussow-Universität in der Hauptstadt Eriwan. Um über die Runden zu kommen, dolmetscht sie nebenbei für verschiedene Organisationen oder übersetzt Bücher. Sie spricht perfekt Deutsch, Russisch und Englisch. Eine Krankenversicherung hat sie nicht: "Die ärztliche Versorgung hier ist nicht grade billig. Wenn ich mal mit einem ernsten Problem zum Arzt muss, bin ich finanziell auf meine Eltern angewiesen", sagt die 33-Jährige.
Mehr als zehn ihrer Freunde haben Armenien schon in Richtung Deutschland verlassen. Und viele ihrer Deutsch-Schüler haben das gleiche Ziel. Astghik selbst hatte nie daran gedacht, aus Armenien wegzugehen: "Das hier ist meine Identität, meine Heimat, ich wollte nie woanders leben." Allerdings - gibt Astghik dann zu - denke auch sie mittlerweile über diesen Schritt nach.
Die Jugend ist frustriert
Astghik Tarloyan ist nur ein Beispiel von vielen: Nach einer neuen Studie denken fast zwei Drittel der jungen Armenierinnen und Armenier darüber nach, ihr Land - zumindest vorläufig - zu verlassen. Sie sind frustriert von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation im Land. Mehr als 30 Prozent der Einwohner gelten nach offiziellen Angaben als arm; die wahre Zahl dürfte wohl noch deutlich höher liegen.
Im Korruptionsindex von Transparency International liegt Armenien auf Platz 107 - zusammen mit Äthiopien, Mazedonien und Vietnam. Die Wirtschaft ist in der Hand weniger Oligarchen: Wer nicht mit den Herrschenden verwandt oder befreundet ist, hat kaum Aussicht auf Geschäfte. Dazu gilt die Justiz als abhängig - ein Killer-Mix für Investoren. Nach jeder Wahl gibt es Fälschungsvorwürfe. Auf den Listen werden viele Verstorbene geführt. Die Frage: "Opa, wenn Du schon extra für die Wahlen ins Leben zurückgekehrt bist - warum hast Du uns dann nicht wenigstens besucht?", ist ein geflügeltes Wort in Armenien.
Das Land blutet aus
Fehlende Perspektive, dazu oft staatliche Willkür: Die Jugend flieht in Scharen. Wieviele es tatsächlich sind, kann nur geschätzt werden: Die Regierung geht von 30.000 bis 40.000 aus - pro Jahr; die große Mehrheit flieht Richtung Russland. Seit Ende der Sowjetunion hat Armenien wohl mehr als eine Million Einwohner im Alter von 16 bis 30 Jahren (ein Drittel der Bevölkerung!) verloren - und damit seine Zukunft.
Die Regierung scheint das nicht zu stören. Man könne den Weggang nicht stoppen, das sei auch gar nicht sinnvoll, meint Tamara Torosyan vom Jugendministerium: "Auswanderer halten ihre Verbindung zu Armenien aufrecht, allein wegen ihrer Familien; und manche kommen ja auch gut ausgebildet und mit neuen Impulsen für das Land zurück." Vielleicht ist der Regierung der Exodus aber auch gar nicht so unrecht: Denn mit der gut ausgebildeten Jugend verschwinden auch potentielle Revolutionäre aus dem Land. Wer Widerstand leistet, so scheint es, demonstriert nicht - er wandert aus.
Umgeben von geschlossenen Grenzen
Die geostrategische Lage Armeniens ist ein Alptraum: im Westen die geschlossene Grenze zur Türkei, die Beziehungen sind belastet wegen des Völkermords an den Armeniern; im Osten das verfeindete Aserbaidschan, die Grenze ist ebenfalls geschlossen, es gibt immer wieder bewaffnete Kämpfe um die Region Berg-Karabach. Armenien als Binnenstaat bleiben damit nur Georgien im Norden und Iran im Süden als direkte Handelspartner.
Immer wieder steht das Land deshalb vor der Frage: Soll man sich weiter der Schutzmacht Russland zuwenden oder doch der EU? Um keine Seite zu verprellen, laviert Armenien herum: 2013 lässt das Land in letzter Sekunde ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU platzen. Stattdessen tritt es Putins Eurasischer Wirtschaftsunion bei. Jetzt wieder ein Schritt Richtung Europa: Mit der EU ist ein weniger ambitioniertes Partnerschafts-Abkommen ausverhandelt, das bald in Kraft treten soll. Strategische Partnerschaft mit Moskau einerseits, gute Beziehungen zu Europa und der NATO andererseits - das scheint er zu sein, der armenische Weg.
Auf gepackten Koffern
Auch Karine Mkhitaryan sitzt auf gepackten Koffern. Die 26-Jährige hat sich in Tschechien auf einen IT-Job beworben: "Hier im Land fehlen überall gut Ausgebildete - alle sind weg, jeder sieht bessere Chancen im Ausland." Wenn es mit Tschechien klappt, könnte sie sofort los - wohnen würde sie erstmal bei Freunden in Prag. Bis dahin gibt sie Russen Deutschunterricht per Skype. Für immer möchte Karine aber nicht weg. Sie will wieder zurückkommen in ihr geliebtes Armenien - dann als Fachkraft mit Auslandserfahrung; denn sie glaubt fest an eine bessere Zukunft für Armenien.
Quelle: zdf
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