Geständnisse über Einsamkeit und Sex

  22 April 2018    Gelesen: 712
Geständnisse über Einsamkeit und Sex

Reicht ein Brief, ein Anrufbeantworter-Monolog, wenn Du fürchtest, dass Dein Kind missbraucht wird? Dass Du Dich in Deinen Schwager verliebst? Dass Du eine schlechte Mutter bist? In "Über uns" führt Autor Eshkol Nevo die Einsamkeit vor.

 

Im Vorort ist es nicht so wie in der Stadt. Da gibt es noch Nachbarn wie früher. Bei ihnen leiht man sich Eier. Zwiebeln. Dosentomaten für das Shakshuka. Und man gibt auch mal die Kinder ab. Was ist praktischer als ein älteres Ehepaar, das danach giert, auf Deine Tochter aufzupassen, weil die eigenen Enkel weit weg sind? Du kannst mit dem zweiten Kind zum Arzt, Du kannst zum Sport. Du kannst endlich mal wieder Sex mit Deiner Frau haben, spitz, wie Du nach Schwangerschaft und Stillzeit bist. Trotzdem hätten bei Arnon aus dem ersten Stock die Alarmglocken läuten müssen. Das Hoppe-Hoppe-Reiter-Spiel. Die Küsschen. Seit dem Vorfall mit Hermann hat er ungute Gedanken. Dass sein alter Freund sich das alles anhört, gleich Zeit für ihn hatte, obwohl sie sich wie lange nicht gesehen haben? Ein Bruder, wirklich.

Neta wird bestimmt überrascht sein, wenn sie den Brief von Chani kriegt. Seit Ewigkeiten hatten sie keinen Kontakt mehr. Aber die Wahrheit ist: Chani, die im zweiten Stock lebt, hat sonst niemanden. Ihre Psychologin ist gestorben. Mit den anderen Müttern auf dem Spielplatz tauscht sie nur Alltagsgeplapper aus. Und ihrem Mann kann sie natürlich nicht sagen, was mit ihr ist, seit ihr Schwager bei ihr aufgetaucht ist. Sie hat sich sogar auf die Suche nach einer Kirche mit so einem Beichtstuhl gemacht, denn irgendwem muss sie es erzählen. Sonst wird sie noch verrückt wie ihre Mutter und sieht nachts Schleiereulen auf den Bäumen sitzen.

Richterin Dvorah Edelman aus dem dritten Stock ist keine dieser einfältigen Witwen, die zum Friedhof fahren und mit Grabsteinen sprechen. Aber sie muss noch einmal mit ihrem Mann Michael reden. Und wenn sie ihm nur auf dem alten Anrufbeantworter Nachrichten hinterlässt. Sie will ihm von dem seltsamen Mann erzählen, den sie bei den Sozialprotesten in der Stadt getroffen hat. Vor allem aber muss sie mit ihm noch einmal über ihren gemeinsamen Sohn, Adar, reden.

Alle teilen alles. Außer das Wichtige


Er habe sich Gedanken über Einsamkeit und Geheimnisse gemacht, in Zeiten, wo man scheinbar alles teile, sagt Autor Eshkol Nevo im Gespräch mit n-tv.de. "Wem erzählt man die wirklich intimen Dinge?" Er wisse ja nicht, wie das in Deutschland mittlerweile sei, aber in seiner Heimat Israel sei zum Beispiel das Smartphone eine Plage, stünde jedem intimen Gespräch im Weg. Gleichzeitig würden die Menschen sich immer mehr scheuen, sich verletzlich zu zeigen. Das mache einsam.

Wem Eshkol Nevo selbst seine Geheimnisse erzählt? Der Schriftsteller lacht. "Es geht nicht um mich, ich stehe nicht im Zentrum der Geschichten. Aber gut: Ich habe meine Frau, gute Freunde, ich bin privilegiert." Trotzdem kenne natürlich auch er die Einsamkeit. "Als wir unsere dritte Tochter bekamen, bin ich in Elternzeit gegangen und hatte mich sehr darauf gefreut. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie einsam mich das machen würde! Tagein, tagaus auf den Spielplätzen nur Gespräche über Brei und Windeln zu führen." Die Erfahrungen, die seine Romanfigur Chani in ihrem Alltag mit kleinen Kindern mache, stammten aus dieser Zeit.

Bei den Lesungen zu "Über uns" würde im Publikum immer genickt, wenn er sage, dass jeder seine Geheimnisse habe. Außerdem würden ihm immer wieder fremde Leute schreiben, die seine Bücher gelesen hätten und ihm ihre dramatischen Geschichten erzählen, für die sie vielleicht sonst keine Zuhörer haben.

Der Leser als Therapeut und Freund


Ganz wie die Figuren in seinem neuen Buch, denen Nevo stumme Ansprechpartner gibt, womit er eine therapeutische Situation schafft. Mit jeder Seite, jeder Stufe in diesem Mehrfamilienhaus tritt man tiefer ein in die Gefühlswelt dieser so menschlichen Figuren mit all ihren Ängsten und kann quasi als weiterer Zuhörer mitfühlen, richten, Ratschläge ersinnen. Oder sich schlicht mit dem einen oder anderen Charakter identifizieren.

Nevo, der vor seiner Karriere als Schriftsteller Psychologie studierte, arbeitet sich in den drei lose verbundenen Geschichten über Arnon, Chani und Dvorah dabei nicht nur die drei Etagen dieses Hauses am Stadtrand hoch, er lässt auch noch Sigmund Freud mit seinem Modell des Es, Ich und Über-Ich grüßen.

Wer mag, kann das Modell anhand des sexuell agressiven Mannes im ersten Stock, der labilen Frau im zweiten Stock und schließlich der Richterin im dritten Stock mit durchexerzieren. Man kann sich aber auch einfach von den Geschichten wegtragen lassen. Nur eine Auflösung gibt es nicht – wenn das Geheimnis erzählt ist, geht es weiter in die nächste Etage, zum nächsten Geständnis. Ein Schlag für die Fans, für die Nevo wie Scheherazade ist, von der man sich wünscht, dass sie immer weiter erzählen möge. Zurück bleibt der Leser mit der Hoffnung, dass das Reden die Erleichterung für Arnon, Chani und Dvorah brachte. Und der Frage, wem man selber seine Last anvertrauen würde.

Quelle: n-tv.de


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