Der Geist von Gezi ist nicht tot

  31 Mai 2018    Gelesen: 1094
Der Geist von Gezi ist nicht tot

Vor fünf Jahren eskalierten die Proteste im Gezi-Park. Sie erfassten die gesamte Türkei. Präsident Erdogan ging seitdem immer aggressiver gegen seine politischen Gegner vor. Sicher fühlen kann er sich trotzdem nicht.

Evrim* hat sich zurückgezogen: 2013 wohnte die Designerin nur ein paar Schritte vom Istanbuler Gezi-Park entfernt. Sie zählte zu den ersten, die sich den Protesten anschloss. Jetzt lebt sie zehn Autostunden von ihrem einst so geliebten Istanbul entfernt, auf der Halbinsel Bodrum, einem Urlaubsidyll an der Agäis. „Ich schaue keine Nachrichten mehr“, sagt Evrim. „Ich lese auch nicht mehr die Zeitung.“ Ist der Geist von Gezi tot?

Wenn Evrim von jenen Tagen im Sommer vor fünf Jahren berichtet, klingt es wie eine Geschichte aus einer weit entfernten Vergangenheit. „Wenn ich an die Gezi-Zeiten zurückdenke, bin ich stolz auf das, was wir damals getan haben“, sagt sie.

Präsident Recep Tayyip Erdogan, damals noch Ministerpräsident, wollte auf dem beliebten Grünfeld am Taksim-Platz den Nachbau einer osmanischen Kaserne errichten. Eine pompöse Hülle für ein weiteres Einkaufszentrum im dichtbesiedelten Zentrum der Metropole. Als am 27. Mai 2013 die Bulldozer heranrollten, um die Bäume des Parks zu entwurzeln, stellten sich ihnen rund 50 Umweltschützer in den Weg. Zwei Tage später stieß auch Evrim dazu.

Nach einer Reihe kleinerer Interventionen der Polizei eskalierte die Lage am 31. Mai. Die Sicherheitskräfte versuchten zu räumen, mit einem massiven Einsatz von Reizgas. In den Tagen, die darauf folgten, kam es immer wieder zu Zusammenstößen von Sicherheitskräften und Demonstranten. Nicht mehr nur rund um den Gezi-Park, sondern im ganzen Land. Die Polizeigewalt vom 31. Mai wirkte wie ein Brandbeschleuniger.

Anfangs sei sie wegen des Naturschutzes dabei gewesen, erklärte Evrim. Mit jedem Tag im Park reifte in ihr aber das Bewusstsein, dass die immer stärkere Einschränkung der Freiheiten der türkischen Bürger der Grund für den wachsenden Zustrom an Leuten war. „Menschen verschiedenen Glaubens, Menschen mit verschiedenen Muttersprachen, Fans verschiedener Fußballteams vereinten sich hier im Protest“, sagte sie. Und sie war sich sicher: „Diese Leute werden nicht aufhören, ihre Ideale zu verteidigen.“

Einer Schätzung des türkischen Innenministeriums zufolge beteiligten sich 3,54 Millionen Menschen in 80 der 81 Provinzen an den Protesten. Erdogan nannte die Männer und Frauen „Ratten“ und „Terroristen“ und ließ sie mit aller Härte angreifen. Die blutige Bilanz: neun Tote und 8163 Verletzte. Mehrere Demonstranten verloren während des massiven Einsatzes von Reizgas, Wasserwerfern und Gummigeschossen das Augenlicht. Ruhe kehrte erst ein, als die Sicherheitskräfte den Gezi-Park am 15. Juni endgültig räumten. Danach versammelten sich die Engagiertesten unter den Engagierten noch zu Foren und Strategietreffen. Doch sie wurden immer seltener.

Ein Land im Ausnahmezustand


Erdogan fühlte sich im Sommer des Jahres 2013 wohl so bedroht, wie noch nie in seiner Karriere an der Spitze des türkischen Staates. Er reagierte immer heftiger auf Widerstände und nahm die Spaltung seines Landes in Kauf. Die Jungen, Gebildeten und Liberalen verlor er endgültig mit Gezi. Nach einem für Erdogan gefährlichen Korruptionsskandal Ende 2013, der vor allem wegen des Engagements von Juristen und Ermittlern aufflog, die Fethullah Gülen nahe stehen, kam es zum Bruch mit dem einst verbündeten Prediger. Erdogans Regierung ließ Hunderte Polizisten, Richter und Anwälte versetzen oder aus dem Amt drängen.

Nachdem ihm bei den Parlamentswahlen 2015 die absolute Mehrheit verloren ging, weil es die prokurdische HDP ins Parlament schaffte, folgte der Bruch des Friedensprozesses mit den Kurden. Die HDP, die auch eine Stimme der liberalen und linken Türken war, wurde kriminalisiert.

Mit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 verhärteten sich die Fronten weiter. Und Erdogan agierte noch rigoroser. Seither gilt in der Türkei der Ausnahmezustand, der die Rechte der Bürger auf vielen Ebenen aushebelt. Die Türkei rutschte in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen seit 2016 von Platz 157 auf Platz 180 ab. Der Zugang zum Internet ist teils massiv eingeschränkt. Die Enzyklopädie Wikipedia etwa ist mit türkischer IP-Adresse seit April 2017 nicht mehr erreichbar. Zehntausende Menschen wurden inhaftiert oder verloren ihre Jobs. Allein in Deutschland beantragten mehr als 1000 Diplomaten und Staatsdiener Asyl für sich und ihre Familien.

Protest mit Kochtöpfen


Wiederholt brach sich aber trotz dieser Zustände der Protest Bahn. Als Erdogan 2017 nur knapp ein Referendum für eine Verfassungsreform gewann, gingen Tausende Türken in Istanbul auf die Straße. Sie warfen der Staatsführung Wahlbetrug vor. Viele schlugen bei ihren Streifzügen durch die Stadt auf Kochtöpfe und weckten auch so wieder Erinnerungen an Gezi. Wer die Demonstranten unterstützen wollte, die auf den Straßen ihr Leben riskierten, machte schon damals durch ein improvisiertes Geschirrkonzert Lärm.

Das jüngste Aufkeimen des Protestes war in sozialen Medien zu beobachten. Als Erdogan Anfang Mai dieses Jahres vor Abgeordneten seiner Partei erklärte, „wenn unsere Nation eines Tages 'tamam' sagt, dann werden wir auch Platz machen“, löste er einen gewaltigen Shitstorm aus. „Tamam“ heißt grob übersetzt „genug“. Erdogan sagte also, er würde seinen Posten räumen, wenn es das Volk wolle. Binnen Stunden verbreiteten sich mehr als eine Million Tweets mit einem entsprechenden Hashtag - und das quer durch die Reihen der Opposition.

Mit Gezi sind diese geballten Aufstände der Erdogan-Gegner zwar nicht zu vergleichen. Auch, weil sie schnell wieder vorbei waren. Aber der Geist jener Tage im Sommer 2013 ist nicht tot. Davon ist zumindest Evrim überzeugt. „Ich weiß, dass wir etwas verändert haben“, sagt sie. „Und bald wird sich das auch zeigen.“ Evrim hat die Hoffnung nicht verloren. Die Erfahrungen der Gezi-Proteste machen ihr auch heute noch Mut.

Die Bäume im Gezi-Park stehen noch


So aussichtslos, wie die Lage Oppositioneller in der Türkei mitunter für Außenstehende erscheinen mag, ist sie vielleicht auch gar nicht. Am 24. Juni stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Erdogans Partei, die AKP, muss angesichts der Umfrageergebnisse um ihre absolute Mehrheit fürchten - trotz einer Allianz mit der ultranationalistischen MHP. Erdogan läuft auch Gefahr, sich seinen gewohnten Platz im Präsidentenpalast zumindest nicht im ersten Wahlgang  sichern zu können. Die AKP ohne absolute Mehrheit und ihr Präsident nur in der Stichwahl erfolgreich - Erdogan wäre geschwächt, und das ausgerechnet in Zeiten, in denen ihn der Verfall der Lira und die lahmende Wirtschaft ohnehin unter Druck setzen.

Die meisten Gegner Erdogans räumten schon bei ihren Demonstrationen nach dem Verfassungsreferendum ein, dass sie Erdogan mit Protesten auf der Straße heute wohl noch weniger als 2013 würden stoppen können. Und schon gar nicht mit Shitstorms bei Twitter. Aber hier und da keimt Hoffnung auf, dass die Gegner des Präsidenten noch etwas erreichen können. Zumindest, wenn sie sich zusammenraufen und sich wie damals unerwartete Allianzen bilden.

Das Symbol Gezi-Park konnte Erdogan noch nicht vernichten: Sein als osmanische Kaserne verkleidetes Einkaufszentrum hat er noch nicht gebaut. Auf der einen Seite des Parks wird zwar das Atatürk-Kulturzentrum abgerissen, um einem neuen Kulturzentrum Platz zu machen. Und auf der anderen Seite entsteht eine neue Moschee im osmanischen Stil. Doch die Bäume, mit denen der Aufstand gegen Erdogan anfing, stehen immer noch.

*Name durch die Redaktion geändert

Quelle: n-tv.de


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