"Dann brennt bald die ganze Bude"

  13 Juni 2018    Gelesen: 1859
"Dann brennt bald die ganze Bude"

Carsten Stahl wurde jahrelang von Mitschülern verprügelt und schikaniert. Nun kämpft er in Schulen gegen Mobbing - auf ungewöhnliche Weise.

 

Carsten Stahl hat sich beim Sturz auf die Lippe gebissen, Blut quillt aus seinem Mund, so viel, dass er es herunterschlucken muss. Er ist in eine drei Meter tiefe Baustellengrube gefallen, nachdem er von einem 15-Jährigen geschubst worden war. Da liegt er nun, eine Rippe ist gebrochen, es ist Spätherbst, es ist kalt und dunkel. Die Jungs stehen noch oben am Rand der Grube und lachen, als sie ihre Hosen runterlassen und auf den Zehnjährigen herunter pinkeln.


Mehr als 35 Jahre später steht Carsten Stahl vor den siebten und achten Klassen der Sekundarschule Campus Technicus in Bernburg, das im Salzlandkreis zwischen Magdeburg und Halle liegt. Stahl sagt den Schülern, er habe damals nicht gefunden werden wollen. "Ich wollte nur noch sterben." Es ist still in der Aula und kaum auszuhalten, was Stahl erzählt. Ein paar Schüler fangen an zu weinen, andere schauen auf den Boden.

Weil er damals kleiner und dicker ist als andere Schüler, weil er Sommersprossen und leicht rötliche Haare hat, wird Stahl zum Opfer. Immer wieder schikanieren ihn Mitschüler und Jungs aus höheren Klassen. Stahl wächst in Berlin-Neukölln auf, wo Kinder Gefahr laufen, verprügelt zu werden, wenn sie den falschen Weg nach Hause wählen. Jahrelang wird der Junge gemobbt, traut sich aber nicht, jemandem davon zu erzählen, weil er Angst hat, die Jungs schneiden seiner Mutter die Kehle durch.

Über Gewalt an Schulen wird seit einigen Monaten wieder vermehrt in den Medien und in Talkshows diskutiert. Lehrer der Gemeinschaftsschule Bruchwiese in Saarbrücken klagten im Dezember über ein Klima der Angst, Aggressivität und Respektlosigkeit. An einer Grundschule in Sachsen-Anhalt berichteten Lehrer im Februar in einem Brief über "extreme körperliche Gewalt". Und aus einer Schule in Oberbayern hieß es im März, die Lehrer hätten die Kontrolle über den Unterricht verloren.

Seit Jahren scheinen Gewalt und Mobbing an Schulen zuzunehmen, verlässliche Zahlen dazu gibt es kaum, lediglich aus den Bundesländern Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Dort haben Straftaten an Schulen einer aktuellen Polizeistatistik zufolge zugenommen. Und laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) sind in den vergangenen fünf Jahren Schüler und Eltern an fast jeder zweiten Schule in Deutschland gewalttätig gegenüber Lehrern geworden.

Eltern und Lehrer scheinen überfordert und Politiker ideenlos im Kampf gegen Gewalt und Mobbing. Und genau hier setzt Carsten Stahl an. Er ist nicht der einzige Mobbing-Experte in Deutschland und auch nicht , der einzige, der Seminare an Schulen anbietet - aber er hat einen Vorteil: seine Vergangenheit.

Von seinem Dasein als Opfer befreit er sich damals mit viel Sport, erst Fußball und Tennis, später Kraftsport. Mit den wachsenden Muskeln, kommt das Selbstbewusstsein. Stahl beginnt damit, zurückzuschlagen. Wer ihn herausfordert, auf den prügelt er hemmungslos ein. Das verschafft ihm Respekt, irgendwann hänselt ihn niemand mehr, keiner greift ihn mehr an.

In Bernburg lässt Stahl die Schüler alle Schimpfwörter zusammentragen, die sie kennen. Ein Junge schreibt sie auf. Hurensohn, Schlampe, Wichser, Reagenzglaskind. Die Liste wird lang. Die Schüler lachen. Doch komisch findet Stahl das nicht. "Es ist traurig, dass ihr euch gegenseitig dabei anfeuert", ruft er ihnen zu. Später fragt er, wie viele Schüler schon einmal gemobbt worden seien, fast alle heben die Hand. Dann will er wissen, wie viele Schüler selbst schon einmal jemanden beleidigt, geschlagen oder gemobbt hätten, wieder heben fast alle die Hand. "Mobbing ist wie ein Feuer, wenn es einmal im Papierkorb brennt, dann brennt bald die ganze Bude", sagt Stahl.

Luisa Liebefinke hat er es zu verdanken, dass er an diesem Tag im Mai vor den Bernburger Schülern stehen darf. Sie koordiniert das Bundesprogramm "Demokratie leben!" und hat Stahl eingeladen. "In vielen Schulen ist Mobbing ein Problem, aber es wird nichts dagegen unternommen", sagt sie. Auch am Campus Technicus in Bernburg gebe es Situationen, in denen es zu gewalttätigen Handlungen kommt, sagt Schulleiterin Christine Brauns. Es werde gemobbt, wobei bei den Schülern das Wort "Mobbing" auch für Streitigkeiten und andere Konflikte stehe. Erst im September wurde ein Achtklässler zusammengeschlagen, wie die "Mitteldeutsche Zeitung" berichtet hat.

Die Schulleiterin fühlt sich allein gelassen. Es gebe zwar auch zwei Sozialarbeiter, aber "die Schule braucht mindestens vier". Sie hält einen Einsatz von Carsten Stahl für sehr sinnvoll. "Er kann sich äußern, wie es ein Lehrer nicht kann", sagt sie. "Er ist authentisch, wenn er seine Geschichte erzählt, die Schüler hören ihm zu."

Dabei ist Stahl durchaus umstritten. Nach seinem Schulabschluss kommt er damals auf die schiefe Bahn, wird Chef einer kriminellen Gang. Er fängt an Drogen zu nehmen, rutscht immer tiefer ab. Einige Jahre später steigt er aus, weil er einen Sohn bekommen hat und etwas Besseren für ihn will. Er kauft sich frei, fängt ein neues Leben an. Stahl kommt zum Fernsehen und löst als fiktiver Privatdetektiv Fälle auf RTL 2. Trashig ist das schon, aber genau das kommt bei den Jugendlichen an. In Bernburg wollen viele Fotos mit Stahl - sogar die Mutter einer Schülerin, die zum extra zum Workshop mitgekommen ist.

spiegl


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