Die Nikolskaja in Moskau ist das Herzzentrum der Weltmeisterschaft. Die Straße führt zum Roten Platz. Sie hat etwas Magisches. Das mag daran liegen, dass die Flaneure unter einem Sternenzelt wandeln. Dafür sorgt die Installation hunderttausender Lämpchen. Diese leuchten groß und klein und in allen Farben entlang der Straße. Sogar am Tag blitzt es millionenfach wie Kristall in der Moskauer Sonne. Kein Wunder, dass sich auf der Nikolskaja täglich Fußballfans aller Herrenländer treffen und gemeinsam feiern.
An diesem Ort treffe ich meine Kollegin Sascha. Gemeinsam wollen wir uns das zweite Spiel der russischen Mannschaft gegen Ägypten ansehen und zuvor noch etwas WM-Stimmung aufsaugen. Überall sind Menschen in bunten Trikots, unterhalten sich und fotografieren sich gegenseitig. Eine russische Familie posiert mit mexikanischen Fans. Der Vater schnappt sich einen Sombrero, und dann wird in die Kameralinsen gegrinst. Freundliches Abklatschen, ein Gruß und weiter geht‘s.
Eine argentinische TV-Reporterin versucht in dem Getümmel ein Interview mit Fans. Der Kameramann schüttelt genervt den Kopf. Ein paar Meter weiter spricht ein russischer Fernsehmann vor einem Souvenirladen mit Mexikanern. Auch die Fans der Verlierer des Tages sind da. Polnische Anhänger sind trotz der unerwarteten Niederlage gegen Senegal beseelt, an diesem Ort zu sein.
Wettsingen, Maradona und Salsa
Plötzlich wird es enger und lauter. Zu unserer Rechten besingt eine sehr große Gruppe Argentinier tanzend ihre Mannschaft, ihr Land und den heiligen Maradona. Direkt gegenüber haben sich brasilianische, peruanische, kolumbianische und natürlich auch mexikanische Fans zu einem optischen und akustischen Gegenstück vereint. Ich spreche weder spanisch noch portugiesisch. Aber ich verstehe, dass sie die Argentinier und deren heiligen Maradona verhöhnen. Allerdings ohne Hass oder Aggression. Es ist ein Spiel. Die eine Seite singt etwas und erwartet gespannt die Reaktion der andern, um dann wiederum energisch zu kontern. Das ist anstrengend. Die Argentinier schwitzen wie bei einer Verlängerung.
Wenn man sich fragt, warum Europameisterschaften nie so toll sind wie Weltmeisterschaften und im Vergleich immer etwas bieder daherkommen, ist die Antwort ganz einfach: Bei Europameisterschaften sind Mexiko, Argentinien, Brasilien, Kolumbien und vor allem ihre Fans nicht dabei. Ohne Lateinamerikaner keine Fiesta. Die steigt ein paar Meter weiter. Dort erklingt lateinamerikanische Musik, und die Leute tanzen Salsa.
Das Spiel
Beim Eintauchen in diese Stimmung haben wir die Zeit vergessen. Das Spiel beginnt, und wir haben noch keinen Platz vor einem Bildschirm. Die erste Halbzeit verfolgen wir vor einer Bar. Sie lassen niemanden mehr rein, es ist zu voll. Wir sehen den Bildschirm nur durch die Scheibe und winzig klein. Das ist kein Zustand. Zur zweiten Halbzeit müssen wir den Ort wechseln. Wir haben tatsächlich Glück. In einem riesigen Restaurant finden wir zwei Stehplätze vor einem Bildschirm. Die Sicht ist gut, die Stimmung noch besser.
Um uns herum sitzen, stehen, hocken die Fans der Welt. Die Russen sind in der Überzahl. Ein Mann verkauft Bier aus einem Kühlschrank für 500 Rubel die Flasche. Umgerechnet sind das sieben Euro. Kurz will ich mich ärgern, lasse es aber. Warum auch? Weltmeisterschaft ist nur einmal, wer will es ihm verdenken?
Zu Beginn der zweiten Halbzeit erklingt es aus hundert Kehlen: „Rossiya, Rossiya.“ Und es wird nicht aufhören. Denn kurz darauf fällt das 1:0. Ein Russe zieht aus der Distanz ab, und ein ägyptisches Knie fälscht den Ball ins eigene Tor ab. Die Menge explodiert. Neben mir steht Sasha mit freudiger Fassungslosigkeit in den weitaufgerissenen Augen. Noch bei der dritten Wiederholung des Treffers scheinen sie zu fragen, wie dieser Ball im Tor landen konnte. Großes Glück.
Das zweite Tor dagegen ist große Klasse: Kombination über rechts, Rückpass von der Grundlinie, Flachschuss durch die Beine des Torwarts, Jubel. Wenn es läuft, dann läuft‘s. Die Fans fordern lautstark das dritte Tor und es fällt: 3:0! Der Gegentreffer durch Elfmeter ändert auch nichts mehr. Kurz vor Schluss erhebt sich ein großer schwarzer Mann im Senegal-Trikot und singt: Rossiya, Rossiya! Und der Laden explodiert.
Das Achtelfinale ist den Gastgebern so gut wie sicher. Ich erinnere mich an einen Spiegel-Artikel nach dem Eröffnungsspiel. Darin wurde das Ausscheiden Russlands in der Vorrunde prognostiziert. Denn letztlich habe die Mannschaft trotz des 5:0 gegen Saudi-Arabien fußballerisch gegen Ägypten und Uruguay keine Chance.
Was sie jetzt wohl schreiben werden? Vielleicht: Spätestens im Finale ist für Russland Schluss!
Etwas später machen wir uns auf zur Metro. Ein paar Meter weiter auf der Nikolskaja geht die Nacht jetzt erst richtig los.
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