Herr Hartmann, Sie haben bei der Friedensaktionskonferenz in Potsdam mit Blick auf die Konfrontations- und Aufrüstungspolitik der Nato gegen Russland gesagt: Die einzige Lösung kann nur „Raus aus der Nato“ sein. Warum?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. In aller Munde und aktueller Aktionsgegenstand der Friedensbewegung ist die Kampagne „Abrüsten statt Aufrüsten“. Es geht dort konkret um die Frage, künftig zwei Prozent des Brutto-Inlands-Produktes für Rüstung auszugeben. Das wird von Trump permanent eingefordert, auch jetzt im Vorfeld des jetzt aktuell bevorstehenden Nato-Gipfels. Es ist an der Stelle daran zu erinnern, dass diese Verpflichtung der Nato-Staaten angeblich eine freiwillige war. Sie stammt schon von 2014. Sie wurde damals auf Anforderung des Trägers des sogenannten Friedensnobelpreises und damaligen US-Präsidenten Obama beschlossen. Nun ist man in den letzten Monaten wachgeworden, dass dies ja für Deutschland praktische eine Verdoppelung des Rüstungsetats bedeutet – bei derzeit 38 Milliarden Euro auf über 75 Milliarden.
Bei den bemerkenswerten Verhandlungen zur Großen Koalition ist die SPD ist mit der „revolutionären Forderung“ in Erscheinung getreten: „1,5 Prozent sind genug!“ Wer nachrechnen kann, erfährt: Das sind immer noch über 55 Milliarden Euro pro Jahr. Diese Forderung ist offensichtlich erfüllt worden, weil sowohl von der Leyen wie auch Merkel in den letzten Tagen wiederholt haben, bis 2024 sei das Ziel 1,5 Prozent. Wie es weitergeht, haben sie nicht gesagt. Wir wollen an der Stelle mal in Erinnerung bringen: Diese Selbstverpflichtung gilt nur für Nato-Mitglieder. Wäre man nicht in der Nato, wäre auch die Verpflichtung weg. Wir könnten ungerührt abrüsten.
Nur wie kommt man aus der Nato raus? Scheinbar gar nicht. Ist das ein göttliches Gesetz, dass man da drin sein muss? Nein, die Bundesrepublik kann austreten. Jedes Nato-Land kann austreten. Die Kündigungsfrist beträgt nach dem Nato-Vertrag exakt ein Jahr. Und aus Gründen der Sparsamkeit – ich will gar nicht auf die neue schwarze Null im Finanzministerium hinweisen – ist das wirklich ein Gebot des Überlebens.
Nun ist das noch nicht absehbar und in wenigen Tagen gibt es einen Nato-Gipfel in Brüssel. Was erwarten Sie von dem?
Vom Nato-Gipfel in Brüssel ist zunächst mal nur zu erwarten, dass es in der bekannten Marschordnung Richtung Konfrontation mit Russland weitergeht. An dieser Stelle wird auch Trump relativ unnachgiebig sein. Die Nato-Doktrin ist seit mindestens 2014 offensiv auf Abschreckung, auf Eingrenzung, auf Einhegung Russlands eingestellt. Da wird es kaum Abstriche geben. Auch die ganzen westlichen Politiker, die in Trump eher einen unsicheren Kantonisten sehen und befürchten, dass von dem militaristischen Kurs abgewichen wird, die werden das entsprechend befeuern. Von daher wird dieser Gipfel höchstwahrscheinlich keine positiven Ergebnisse bringe. Er könnte eventuell bei den allerschärfsten Scharfmachern gegen Russland zu Enttäuschungen führen, wenn wie beim G7-Gipfel Trump nicht in allen Punkten mitmacht und zustimmt. Aber das sind wirklich Unwägbarkeiten, und die hängen von der Tagesform und so vielen Launenhaftigkeiten ab, dass darauf keine Friedensperspektive zu bauen ist.
Nun wird die Nato-Aufrüstung, auch das neue Reden von Abschreckung von Russland, begründet mit dem angeblichen Bruch der Europäischen Friedensordnung durch Russland, durch die Ereignisse in der Ukraine und der sogenannten Annexion der Krim 2014. Wie ist das zu beurteilen?
Wer „Annexion der Krim“ sagt, begeht nach dem deutschen Strafgesetzbuch schon mal eine kriminelle Handlung. Verdächtigung ist dort mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bewehrt. Und es handelt sich natürlich nicht um eine Annexion. Darüber gibt das Völkerrecht ausdrücklich Auskunft, was eine Annexion ist. Über die Sezession, wie sie bei der Krim stattfand, gibt das Völkerrecht keine Auskunft. Das ist innerstaatliches beziehungsweise zwischenstaatliches Recht. Trotzdem nimmt man diese kriminelle Falschbehauptung seitens der Nato-Militaristen zum Anlass, gegen Russland voll aufzudrehen. Wenn es das nicht wäre, hätte man etwas anderes erfunden.
Es geht darum, dass in der Ukraine tatsächlich eine Aggression stattfand – nur nicht durch Russland, sondern durch die Westmächte und die Nato. Die Sanktionen gegen Russland werden damit begründet, dass Russland die Minsk-II-Vereinbarungen nicht einhält. Aber Russland ist durch diese überhaupt nicht gebunden, sondern die Kontrahenten. Russland zählt nicht zu den Kontrahenten.
Freie Entscheidung der Krim-Bevölkerung
Die faschistisch inspirierten Putschisten haben die verfassungsmäßige Ordnung der Ukraine zerstört, das Land gespalten und mit ihren schikanösen Gesetzen gegen die russische Minderheit erst die Bewegung ausgelöst. Das führte dazu, dass man auf der Krim sagte: „Wir wollen wieder zu Russland gehören.“ Dies ist eine Entscheidung der Bevölkerung dort. Seitens Russlands war zu keinem Zeitpunkt ein Soldat mehr auf der Krim als durch den ohnehin bestehenden Stationierungsvertrag (mit der Schwarzmeerflotte – Anmerk. d. Red.) mit der ukrainischen Regierung vereinbart war. Die berühmten „grünen Männchen“ haben sich nicht unbedingt ausschließlich auf dem Pachtgelände bewegt. Aber es ist erstens kein Schuss gefallen, es wurde keine Gewalt angewendet, es ist kein Mensch gestorben. Sie haben nur dafür gesorgt, dass die Volksabstimmung der Krimbevölkerung ungestört und ohne Schusswechsel durch die ukrainischen Soldaten, die entsprechend beauftragt waren, stattfinden konnte.
Von daher denke ich, der Westen hat und braucht und sucht weiterhin Vorwände. Er wollte die Ukraine und Georgien ja schon bereits 2008 als Natomitglied aufnehmen – trotz eindeutiger Versprechen gegenüber Gorbatschow 1990/91, dass es keine Osterweiterung gäbe. Daran erkennt man, wer hier das falsche Spiel spielt.
Noch mal zu der Behauptung der westlichen Seite, Russland habe die europäische Friedensordnung erstmals seit 1990 zum Teil zerstört. Wie ist das mit Blick darauf zu beurteilen, dass 1999 gegen Jugoslawien Krieg geführt worden ist auf europäischem Boden?
Die Frage stellen, heißt fast schon, sie beantworten. 1999 ist der berühmte „Sündenfall“ der Nato insgesamt, aber Deutschlands im speziellen. Man hat bereits seit 1991 kurz nach der Wiedervereinigung begonnen, das alte Einflussgebiet Deutschlands, nämlich Südosteuropa, Mitteleuropa genannt, „heim ins Reich“ zu holen, nein, nach den eigenen Vorstellungen zu zerlegen. „Zu balkanisieren“ ist inzwischen ja das Schlagwort geworden. Lauter unselbständige Einzelstaaten, die allein nicht lebensfähig sind, sondern einen starken Beschützer brauchen. Das hat erst die berühmten Bürgerkriege genannten Stellvertreterkriege in der Region ausgelöst.
Mit der Aggression 1999 hat Deutschland nicht nur zum dritten Mal in einem Jahrhundert den dritten völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Serben losgetreten. Sondern es hat tatsächlich einen Präzedenzfall für die Friedensordnung in Europa geschaffen, nämlich die Abtrennung eines Staatsgebietes des souveränen Staates Serbien, der damals noch Jugoslawien hieß. Das war ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, ein Gründungsmitglied der OSZE. Und das geschah mit Gewaltanwendung, allerdings nicht in vollem Umfang erfolgreich. Es musste im Friedensabkommen von Kumanovo im Juni 1999 bestätigt werden, dass der Kosovo ein Teil Serbiens ist und bleibt. Es gab dann eine entsprechende UN-Resolution, Nummer 1244. Das sind alles Dinge, um die sich anschließend die Nato und die sogenannte EULEX-Mission der EU überhaupt nicht geschert haben. Dort ist also tatsächlich eine Annexion, eine gewaltsame Abtrennung erfolgt, etwas, was im Falle der Krim überhaupt nicht gegeben war. Das ist zweierlei Maß, das die Herrschaften anlegen. Die einschläfernde Gehirnwäsche lautet: Europa ist ein Hort des Friedens, nur Russland stört ihn. Das ist eine sehr durchsichtige Masche, die zu nichts anderem als den eigenen Feldzugvorbereitungen dient.
Sie haben die Friedensbewegung zum Teil kritisiert und auf Fehler in der aktuellen Situation hingewiesen. Welche sind das konkret?
Zunächst mal können wir da bei 1999 bleiben, als nämlich die Unsitte einzog, dass man, bevor man die Nato für ihren kriegerischen Kurs kritisiert, sich zunächst mal von der politischen Führung des angegriffenen Landes distanziert, nämlich Milosevic. Dann später Saddam Hussein, Gaddafi und so weiter erst mal zu Schlächtern, zu Verrückten, zu neuen Hitlers oder was auch immer zu erklären. Neuere Varianten lauten Linkspopulist oder Nationalist. Es geht in der Psycho-Kriegsvorbereitung darum, durch die Medien orchestriert, das ausersehene Ziel der nächsten völkerrechtswidrigen Aggression erst mal zu delegitimieren und zum Paria zu stempeln, außerhalb der normalen Gemeinschaft zu stellen, auf den dann das Völkerrecht scheinbar nicht mehr anwendbar erscheint.
Dieses mitzumachen und diesen Kriminalisierungs- und Dämonisierungskampagnen entgegenzukommen – das kritisiere ich an der Friedensbewegung. Damals habe ich schon erklärt: Diesen Geßlerhut der Kriegstreiber grüße ich nicht. Es gibt vergleichbar verschiedene Stimmungen, die in der letzten Zeit um sich greifen. Es gibt eine aktuelle Auseinandersetzung um die Frage: Wie halte ich es mit Russland? Es wird gesagt: Ihr macht ja das Geschäft Russlands, wenn Ihr sagt „Frieden mit Russland und Verständigung“. Ich halte dagegen: Nein, überhaupt nicht. Natürlich muss die Friedensbewegung autonom, unabhängig und nicht Anhängsel eines Staates sein. Aber die Forderung „Frieden mit Russland!“ in den Mittelpunkt zu setzen, das ist das existenzielle Interesse, das Überlebensinteresse der deutschen Bevölkerung. Über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung sagen ja nach Umfragen, dass sie keine Angst vor Russland haben, sondern eher vor den USA. Und von daher tun wir hier etwas originär im Interesse dieser Bevölkerungsmehrheit.
Entscheidend sind die Interessen
Wir können die Frage von Krieg und Frieden nicht mit Emotionen, mit Werten, mit Gefühlen, mit Sympathien und ähnliches erklären. Es geht im internationalen Bereich immer nur nach Interessen. Da muss man fragen: Was sind die imperialistischen Interessen? Und dann ist die Frage nach russischen Interessen. Die sind offenkundig und liegen auf der Hand: Russland hat zu wenig Geld. Russland will seine Wirtschaft entwickeln, es muss sozial stärker werden. Russland hat allerdings auch keine Rüstungsindustrie in privater Hand mit privaten Profiteuren, wie es im Westen gang und gäbe ist. Dort gibt es keine Extraprofite aus der Rüstung. Rüstung in Russland schadet nur, nämlich dem Staatshaushalt, dem fällt das Ganze zur Last. Russland rüstet ab, obwohl die Nato permanent aufrüstet und Deutschland demnächst mehr Geld für Rüstung ausgeben will, als es Russland tut. Von daher kommen wir zum Ergebnis: Russland hat ein Interesse am Frieden und deshalb ist es objektiv Verbündeter der Friedenskräfte. Das in die Köpfe zu bekommen, brauchen wir noch ein paar Meter.
Klaus Hartmann ist Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes und Präsident der Weltunion der Freidenker sowie aktiv in der Friedens- und Solidaritätsbewegung. Er ist Herausgeber der Bücher „Die Zerstörung Jugoslawiens. Slobodan Milošević antwortet seinen Anklägern“, „Ludwig Feuerbach. Ein besseres Leben nicht glauben, sondern schaffen“, „Die bösen Befreier von Zarismus, Faschismus, Kolonialismus“.
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