Weit mehr als eine halbe Million Menschen haben am Samstag in London gegen den anstehenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union demonstriert und ein neues Referendum gefordert. Das allerdings wird es nach dem Willen der britischen Premierministerin Theresa May nicht geben, der Brexit ist beschlossene Sache. Gleichzeitig bröckelt der europäische Gedanke auch in Staaten wie Ungarn, Polen und Italien. Anne Will stellt in ihrer gleichnamigen Sendung am Sonntagabend deshalb die Frage: "Der Brexit-Countdown - was bleibt von Europa?"
Im Berliner Studio nehmen an diesem Abend statt der üblichen fünf nur vier Gäste Platz, als da wären: der britische Botschafter Sir Sebastian Wood, Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), die in London lebende ARD-Journalistin Annette Dittert sowie der für Europa zuständige "Welt"- Korrespondent Dirk Schümer.
Ein neues Referendum?
"Ich mag mir ein Europa ohne England, ohne Großbritannien gar nicht vorstellen. Man hätte um die Briten kämpfen, um sie ringen müssen. Jetzt liegt das Kind im Brunnen und wir diskutieren darüber, wie man es wieder herausbekommt", steigt Schümer in die Diskussion ein. Der britische Botschafter setzt dem deutschen Journalisten daraufhin entgegen, dass den meisten Briten auch nach dem Brexit enge Beziehungen zur EU wichtig seien.
Wenn man Sir Sebastians Argumentation folgt, ist der Austritt Großbritanniens eigentlich nur halb so wild: "Wir müssen einen fairen Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten zwischen der EU und Großbritannien finden. Und wir müssen dafür sorgen, dass es keine Form einer Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien gibt. Das geht nur, wenn wir keine Zollschranken haben", sagt der Ritter ihrer Majestät - und lässt dabei unter den Tisch fallen, dass Zollfreiheit nicht ohne die von Großbritannien geforderte Aufhebung der Freizügigkeit zu haben sein dürfte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte das vor einiger Zeit noch "die Quadratur des Kreises" genannt.
Aber muss es angesichts des massiven Widerstands in Großbritannien denn überhaupt zu einem Brexit kommen oder ist ein neues Referendum zumindest im Bereich des Möglichen? "Die Demografie ist eine andere: Es sind 1,6 Millionen junge Leute dazugekommen, die mehrheitlich Remain wählen würden, gleichzeitig sind eine Million alte von uns gegangen, die mehrheitlich Leave gewählt haben" erklärt Journalistin Dittert die veränderten Vorzeichen im Vergleich zum ersten Referendum im Sommer 2016. Gleichzeitig aber wird die Riege der Hard Brexiteers im englischen Parlament immer stärker: "Man muss fürchten, dass Theresa May möglicherweise die nächste Woche nicht übersteht", sagt die in London lebende Dittert. In dem Fall würde wohl sogar ein weicher Brexit, wie ihn die Premierministern anstrebt, in weite Ferne rücken - von einem Exit vom Brexit in Form eines zweiten Referendums ganz zu schweigen.
Droht ein Auseinanderbrechen der EU?
"Wir machen dieses wahnsinnige Experiment, Europa in die Luft zu jagen, wo wir Europa doch mehr denn je brauchen", schlussfolgert Sigmar Gabriel und öffnet die Diskussion für die übrigen Brandherde in Europa, allen voran Polen und Italien. "Das, was sich gerade in Polen abspielt, ist die weitaus gefährlichere Gefahr für Europa und die EU", sagt Dittert, die bis vor einigen Jahren als Korrespondentin in Warschau gelebt und gearbeitet hat und die Entwicklungen im Land hautnah mitverfolgt. "Kaczynski ist im Moment dabei, Polen in ein autokratisches System zu verwandeln, ohne austreten zu wollen. Man will also weiter das Geld, ohne die Spielregeln zu beachten."
Eine starke und entschlossene Gegenwehr fehlt laut Ex-Außenminister Gabriel bislang: "Europa driftet auseinander, und es liegt bislang nur ein Angebot auf dem Tisch: Das der Populisten, die zurück zum Nationalstaat wollen. Alle, die Europa verteidigen, tun dies mit abgehobenen technokratischen Argumenten." Auch nach Auffassung von "Welt"-Journalist Schümer ist die fehlende emotionale Komponente eines der Hauptprobleme der EU.
Technokratie ist nach Schümers Dafürhalten auch der Hauptgrund für den Aufstieg der Nationalisten in Italien und hat eine Regierung hervorgebracht, die potentiell für den Untergang der EU verantwortlich zeichnen könnte. Der teilweise in Italien lebende Journalist beschwört ein düsteres Szenario herauf: "Die letzte Währung, die gecrasht ist, war der jugoslawische Dinar - und wir alle wissen, was dann passiert ist (der Zerfall Jugoslawiens und der Ausbruch der blutigen Jugoslawienkriege in den 1990ern, Anm. d. Red.). Wenn die Italiener den Euro, vielleicht einfach durch Unachtsamkeit, zu Fall bringen, dann wird es ganz, ganz dunkel auf dem Kontinent."
Quelle: n-tv.de
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